Digitalizing healthcare

Krebsvorsorge aus Angst vor COVID-19 vernachlässigt

Softwarelösungen für Mammografie sollen aufgeschobene Krebsvorsorge abfangen

5min
Andrea Lutz
Veröffentlicht am March 2, 2021

Angst vor Ansteckung, überfüllte Intensivstationen und aufwendiger Infektionsschutz: COVID-19 bringt Gesundheitssysteme und Patienten gleichermaßen an ihre Grenzen – das hat nun auch Auswirkungen auf die Versorgung von Krebserkrankungen: Die enorme Belastung der Gesundheitssysteme könnte zu verzögerten Diagnosen und Behandlungen führen. In Kombination mit versäumter Vorsorge könnte das eine dramatische Entwicklung zur Folge haben, die perspektivisch viele Leben kosten könnte. Digitale Lösungen sollen helfen, diese Versorgungslücke zu schließen.

Im Jahr 2020 wurde bei 4,8 Millionen Menschen in Europa Krebs diagnostiziert. Das sind mehr als 13000 pro Tag, 546 pro Stunde und 9 pro Minute.1 Bei vielen Krebsarten sind die Heilungschancen gut, wenn sie früh erkannt werden. Aber die Prioritäten haben sich verschoben: Weil viele Patienten eine Ansteckung mit COVID-19 fürchten, schieben sie die Krebsvorsorge vor sich her. Obwohl die Praxen geöffnet sind und strenge Hygienevorschriften haben, bleiben die Patienten fern und genau das kann fatale Folgen haben.

Hans Henri P. Kluge, Direktor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet die Entwicklung während der Pandemie als „katastrophal“: Beim Nationalen Zentrum für Onkologie in Kirgisistan fielen im April vergangenen Jahres die Zahl der Krebsdiagnosen um 90 Prozent. In den Niederlanden und Belgien gingen die Krebsdiagnosen während des ersten Lockdowns 2020 um 30 bis 40 Prozent zurück.2 Das ist nur auf den ersten Blick ein positiver Trend – denn die Krankheit ist nicht verschwunden, sondern wird derzeit häufig schlichtweg nicht festgestellt. Noch nicht. Im Vereinigten Königreich wird aufgrund verzögerter Diagnosen für die nächsten fünf Jahre eine Zunahme der Todesfälle infolge von Darmkrebs um 15 Prozent und von Brustkrebs um 9 Prozent3 erwartet.

Viele Patienten wollen noch abwarten, sichergehen, dass sie sich nicht im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung mit COVID-19 infizieren. Erst wenn die Inzidenz weiter sinkt und die Sicherheit für die Bevölkerung steigt, wird die persönliche Gesundheitsvorsorge wieder in den Fokus rücken – das könnte zu einem Ansturm auf Screening-Zentren führen. Darum wird es wichtiger denn je, dass die Untersuchungen in den Praxen sicher und noch effizienter ablaufen. Zwei neue Softwarelösungen sollen Fachkräfte dabei unterstützen, trotz gleichbleibender Ressourcen den steigenden Bedarf an Krebsvorsorge zu decken, denn hierzu stehen weder mehr medizinische Fachkräfte noch mehr Mammographie-Geräte zur Verfügung als vor der Pandemie. Der Schlüssel für eine reibungslose Abarbeitung ist also ein effizienter Arbeitsablauf in den Screening Zentren, sowie ein optimaler Einsatz der Mammographie-Geräte.
Kern der meisten Brustkrebs Screening Programme ist die Mammographie. Auf dem dabei entstehenden Mammogramm sind Veränderungen im Gewebe zu erkennen – im günstigen Fall lange bevor die Patientin selbst oder ein Arzt diese ertasten könnten. Um ein aussagekräftiges klinisches Bild zu erzeugen, wird bei einer Mammografie niedrig dosierte Röntgenstrahlung eingesetzt, die das Brustgewebe durchdringt und Unregelmäßigkeiten sichtbar macht.
„Wir haben etwas Auffälliges entdeckt“ – dieser Satz trifft viele Patientinnen im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung wie ein Faustschlag. Spontan gefundene Unregelmäßigkeiten im Brustgewebe starten sofort das Kopfkino: „Ist es bösartig?“, „Muss ich eine Chemo machen?“, „Muss ich mit dem Schlimmsten rechnen?“. Bevor die Diagnose präzisiert werden kann, können manchmal mehrere Tage vergehen, wenn z.B. weitere Untersuchungen nötig sind, die nicht nahtlos angeschlossen werden können. Solche Tage werden für die Frauen zum Stresstest.

Eine neue Software soll an diesem Punkt schneller Klarheit bringen, denn sie unterstützt Radiologen bei der Auswertung von klinischen Bildern. Nicht selten muss ein Radiologe stündlich die Datensätze von bis zu 100 Patientinnen befunden. Jede Sekunde, die in diesem Prozess eingespart werden kann, ist wertvoll. Zum Beispiel durch Einbeziehung von künstlicher Intelligenz (KI). Denn so kann etwa berechnet werden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es sich bei Unregelmäßigkeiten im Brustgewebe tatsächlich um Krebs handelt.

Eine derartige Voranalyse steigert den Durchsatz an Befundungen und erhöht zugleich durch das präzise „Auge“ der KI die diagnostische Genauigkeit. Natürlich ist die sorgfältige Auswertung durch einen erfahrenen Radiologen das A und O bei der Erstellung der endgültigen Diagnose – aber die KI kann den Prozess beschleunigen, zieht Vergleichswerte heran, analysiert detailreich und automatisiert. Die Software verfügt über eine neue Benutzeroberfläche, die den Weg zum Ziel um einige Klicks abkürzt. In der Summe sollen diese zeitsparenden Maßnahmen in radiologischen Praxen eine noch weiter ansteigende Belastung vermeiden – trotz wieder ansteigender Vorsorgeuntersuchungen.

Nicht zuletzt verkürzen intelligente digitale Lösungen in der Mammographie vor allem auch die Zeit der Ungewissheit, die Patientinnen bis zum Ergebnis der Untersuchung belastet. Und sie bringen die Menschen, die wirklich einen bösartigen Tumor im Gewebe haben, schneller in die Therapie. Genau das kann entscheidend sein für den weiteren Verlauf der Erkrankung.

Eine zweite Software-Innovation nimmt die Abläufe innerhalb einer Institution ganzheitlich unter die Lupe und trackt die relevanten Kennzahlen innerhalb einer radiologischen Abteilung mit Fokus auf Frauenheilkunde oder Frauenarztpraxis. Dabei werden unterschiedliche Kennzahlen des Untersuchungsprozesses visualisiert und unterstützen das Radiologie-Team dabei, Abläufe zu verbessern.

Kritische Ressourcenengpässe aufgrund ineffizienter Abläufe können so erkannt und entsprechende Maßnahmen zu Verbesserung der Prozesse eingeführt werden. Das könnte beispielsweise von Nutzen sein, um zusätzliche Kapazitäten für weiterführende Untersuchungen bei Patienten mit auffälligen Befunden, die nicht sofort eindeutig diagnostiziert werden können, bereitzustellen. So können Ablaufplanungen verbessert und weitere Diagnose- und darauf folgende Therapieschritte schneller eingeleitet werden.

Daneben dokumentiert das dazugehörige Dashboard Informationen aus den Mammographien, wie beispielsweise die für die Untersuchung eingesetzte Strahlendosis sowie die Kompression der Brust, um bewährte Vorgehensweisen noch weiter zu optimieren.

Viele Frauen fürchten eine Krebsdiagnose, doch gerade bei früh diagnostizierten Befunden beträgt die Überlebensrate bis zu 99 Prozent.4 Das Aufschieben der Vorsorgeuntersuchungen während der Corona-Pandemie muss deshalb so schnell wie möglich enden.

Neben der Mammographie ist auch die dreidimensionale Bildgebung in Form der Tomosynthese ein wertvolles Diagnoseinstrument, um Anomalien in der Brust frühzeitig zu erkennen.

Die Aussicht auf eine schnelle, klare, Gewissheit schaffende und vor allem unter Beachtung aller Hygieneregeln stattfindende Diagnose kann die Frauen wieder dazu motivieren, regelmäßig an Screenings teilzunehmen. Optimistisch stimmen Beobachtungen aus Europa und Kanada, die zeigen, dass die Sterblichkeitsrate bei Frauen, die an Screening-Programmen teilnahmen, um über 40 Prozent5 gesenkt werden konnte.


Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.