Neurologie

Demenz: Eine neue Ära in Diagnose und Behandlung

Um eine klinische Entscheidungsfindung zu fördern, setzen immer mehr Gesundheitszentren auf multidisziplinäre Teams. Psychiater, Neurologen, Radiologen und andere Fachärzte setzen sich zusammen, um Fälle zu prüfen.

7min
Peter Jaret
Veröffentlicht am 14. Dezember 2021

Demenz ist eine der verheerendsten Alterskrankheiten. Sie führt zu einem fortschreitenden Verlust des Denkens, der Erinnerung und des Verstandes. In frühen Krankheitsstadien kommt es möglicherweise nur zu geringfügigen Erinnerungslücken und Aufmerksamkeitsstörungen. Im Laufe der Zeit verlieren Patient*innen jedoch ihre Sprache, die Fähigkeit, sich zu bewegen und sogar ihnen nahestehende Personen zu erkennen. Schlussendlich kann die Erkrankung tödlich verlaufen.

Laut einem kürzlich erschienenen Bericht der Organisation Alzheimer’s Disease International leiden über 50 Millionen Menschen weltweit an Demenz. Da das Risiko mit dem Alter steigt und die Menschen so alt werden wie nie zuvor, dürfte sich die Anzahl der Personen mit Demenz alle zwei Jahrzehnte verdoppeln. Bis 2050 werden voraussichtlich 152 Millionen Menschen von Demenz betroffen sein.[1]
Besonders die Tatsache, dass es nicht “die eine Demenz“ gibt, sondern eine Reihe von Grunderkrankungen, die sie verursachen, wirft Probleme auf. Auch nach jahrzehntelanger Forschung sind diese Krankheiten immer noch schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln. In vielen Bereichen werden jedoch bedeutende Fortschritte erzielt.

Wissenschaftler*innen wissen heute, dass die Symptome von Demenz, wie Gedächtnisverlust und Denkstörungen, durch unterschiedliche Erkrankungen des Gehirns hervorgerufen werden können. Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit, die 60 bis 80 Prozent aller Demenzerkrankungen ausmacht. Zu den weiteren Formen gehören die Lewy-Body-Demenz, die frontotemporale Demenz, die vaskuläre Demenz und die gemischte Demenz.
Jede dieser Demenzerkrankungen ist von charakteristischen Veränderungen im Gehirn geprägt. Die Diagnose von Demenz bleibt aber eine Herausforderung. „Die meisten Patient*innen werden zunächst von einem Hausarzt oder Hausärztin untersucht, der oder die eine Anamnese erhebt und möglicherweise einen einfachen kognitiven Test durchführt“, erklärte Dr. Nick Fox, Leiter des Dementia Research Centre am University College London, Großbritannien. „Demenz führt aber zu einem Erkenntnisverlust, daher eignet sich die betroffene Person in der Regel nicht für ihre eigene Anamnese.“

Stattdessen müssen sich die Ärzt*innen auf Familienmitglieder wie die Ehepartnerin oder den Ehepartner oder auf erwachsene Kinder verlassen.


Dementia: A new era in diagnosis and treatment - Quote image

Angesichts der vielen unterschiedlichen Quellen für klinische Daten ist es eine Herausforderung, alle wichtigen Informationen so zusammenzuführen, dass sie von Fachärzt*innen leicht überprüft werden können. „Ärzt*innen überschätzen oft ihre eigenen Möglichkeiten, alle verfügbaren Daten einzubinden“, so Dr. Oskar Hansson, Professor an der Universität Lund in Schweden, wo er Demenzforschung betreibt. Um eine klinische Entscheidungsfindung zu fördern, setzen immer mehr Gesundheitszentren auf das Konzept eines multidisziplinären Teams. Psychiater*innen, Neurolog*innen, Radiolog*innen und andere Fachärzt*innen kommen zusammen, um Fälle zu prüfen. Integrierte Übersichten, die mit künstlicher Intelligenz (KI) alle wichtigen Daten über eine Patientin oder einen Patienten zusammenstellen und darstellen (und die in wachsendem Maße von Tumorboards verwendet werden), versprechen auch bei Demenz eine Unterstützung der klinischen Entscheidungsfindung.
Außerdem tragen Algorithmen dazu bei, verschiedene Krankheitsmarker zu analysieren. Das ATX(N)-Klassifizierungssystem zum Beispiel, das derzeit nur in der Forschung verwendet wird, in der Klinik aber gute Dienste leisten könnte, kategorisiert Patient*innen anhand von drei pathophysiologischen Pfaden: Beta-Amyloid (A), Tau (T) und Neurodegeneration (N). Das X wurde kürzlich hinzugefügt. Es stellt grafisch neue Biomarker dar, die eine Diagnose fördern könnten, wie synaptische Dysfunktion und Veränderungen der Blut-Hirn-Schranke.[7]


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Solche modernen Hilfsmittel könnten sich bei der Analyse von komplexen Fällen als besonders hilfreich erweisen. Dr. Fox: „In einigen Fällen können wir eine Demenz mit Sicherheit ausschließen. Bei anderen können wir Morbus Alzheimer oder eine andere Demenzerkrankung diagnostizieren. Ein Problem haben wir bei denjenigen Personen, deren klinische Daten widersprüchlich oder unzuverlässig sind. Es können vor allem beim Einsatz von mehreren Parametern Unklarheiten auftreten, wenn sich manche Ergebnisse im normalen Bereich und andere sich außerhalb befinden.“
Selbst wenn Morbus Alzheimer oder eine andere Demenzerkrankung diagnostiziert wird, kann kaum eine Prognose gestellt werden. „Eigentlich geht es darum, auf der Grundlage der Vergangenheit die Zukunft vorauszusagen. Wir müssen herausfinden, wie sich eine Person im Vergleich zu ihrem früheren Selbst verändert hat“, so Dr. Fox. Bilddaten, Anamnese und Testergebnisse für Tau in der ZSF können als Leitfaden dienen. In einer kürzlich durchgeführten Studie berichteten Wissenschaftler*innen beispielsweise, dass die Tau-PET-Bildgebung den kognitiven Abbau bei asymptomatischen Patient*innen, die Beta-Amyloid-positiv waren, genau prognostizieren konnte und eine bessere Leistung erbrachte als die volumetrische MRT und die Amyloid-PET.[8]

Aber auch mit diesen Errungenschaften bleibt die Erstellung einer Prognose für die betroffenen Personen herausfordernd, sagte der Psychologe Dr. Andrew Saykin, Direktor des Indiana University (IU) Alzheimer’s Disease Research Center und IU Center for Neuroimaging, Indianapolis, USA. „Tatsache ist, dass wir ohne eine seltene ursächliche Genmutation nicht wissen, wie Morbus Alzheimer bei einer bestimmten Person ausgelöst wird. Wir können Amyloid und Tau erfassen, es bleibt aber die entscheidende Frage, warum diese pathologischen Proteine überhaupt hochreguliert werden. Dysregulationen des Immunsystems, des Fettstoffwechsels, der Gehirnenergetik und verschiedener anderer Signalwege sind die Hauptverdächtigen. Wir müssen also besser verstehen, warum sich Patient*innen hinsichtlich des Erkrankungsalters und der Progressionsrate unterscheiden und warum manche von ihnen ein früheres Erkrankungsalter und schnelle Progression und andere eine sehr langsame Progression aufweisen. Diese Unterschiede zeigen die Notwendigkeit einer Präzisionsmedizin für Demenzerkrankungen auf, bei denen die Behandlung genau auf die jeweilige Person abgestimmt werden kann.“
Mittlerweile stellen Verbesserungen bei der Gehirnbildgebung, die Entwicklung neuer und präziserer Biomarker für Demenzerkrankungen und die Verwendung prädiktiver KI eine weitaus größere diagnostische Präzision in Aussicht. Ein Interessenbereich ist Genetik. „Die Alzheimer-Krankheit weist eine starke genetische Komponente auf“, sagte Dr. Saykin. „APOE e4 ist der bedeutendste genetische Risikofaktor. Viele von uns sind aber an der Möglichkeit interessiert, polygene Risikoscores für Demenzerkrankungen zu entwickeln, ähnlich denen, die wir für Prostata- und Brustkrebs und Diabetes haben. Die aus dem Blut entnommene DNA kann für einen genomweiten Scan verwendet werden, der einen zusammengesetzten Score ergibt, der alle genetischen Variationen zusammenfasst, die zu einem erhöhten Risiko beitragen.“

In der Zwischenzeit könnte die Identifizierung und Entwicklung neuer Blut-Biomarker für die Alzheimer-Krankheit, wie z. B. p-tau, zu minimal-invasiven Tests führen, die in größerem Umfang eingesetzt werden könnten als die heutigen ZSF-Tests. In einem kürzlich erschienenen Übersichtsartikel verwiesen Wissenschaftler*innen auf „erhebliche Fortschritte“ in den letzten vier Jahren hinsichtlich neuartigen Blut-Biomarkern.[9]

APOE e4-Studien zeigen, dass das APOE e4-Gen die Ablagerung von Beta-Amyloid stark beeinflusst. Es kommt zur Bildung von Plaques und zerebraler Amyloidangiopathie (ZAA), zwei Hauptmerkmalen in Gehirnen mit Morbus Alzheimer.
Eine ganze Reihe anderer potenziell nützlicher Biomarker zur Diagnosestellung wird ebenfalls untersucht, darunter auch Exosomen. „Exosomen sind Vesikel, die von Gehirnzellen freigesetzt werden und die Blut-Hirn-Schranke überwinden können“, erklärte Saykin. „Sie tragen molekulare Signaturen, die aufzeigen, was sich im Gehirn abspielt. Wir hoffen, dass wir sie nutzen können, um viel früher als derzeit auf nicht-invasivem Weg Veränderungen im Gehirn zu erkennen.“

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Selbst etwas scheinbar so Einfaches wie ein kognitiver Basistest (der derzeit oft mit einem handschriftlich ausgefüllten Fragebogen durchgeführt wird) kann sehr viel präziser werden. „Mit digitalen Hilfsmitteln wie Smartphones und tragbaren Geräten können betroffene Personen jede Woche oder alle zwei Wochen zu Hause Gedächtnistests durchführen“, so Dr. Hansson. „Dies kann für den Arzt oder die Ärztin sehr aufschlussreich sein. Er oder sie kann feststellen, ob sich die Gedächtnisfunktion verschlechtert oder stabil bleibt, wenn die Patient*in wieder in die Sprechstunde kommt.“ KI-gestützte Prognosealgorithmen könnten dazu beitragen, charakteristische Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten einer Patient*in im Laufe der Zeit zu erkennen.

Derzeit gibt es nur wenige Behandlungsmöglichkeiten für Morbus Alzheimer. Cholinesterasehemmer können den Abbau von Acetylcholin verhindern und die Verschlimmerung der Symptome der Alzheimer-Krankheit verlangsamen oder verzögern, obwohl diese Medikamente das Fortschreiten der Grunderkrankung im Gehirn nicht aufhalten.[2,3] Memantin wird zur Behandlung von Patient*innen mit moderater bis schwerer Alzheimer-Krankheit eingesetzt. Es kann das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit, das Denkvermögen, die Sprache und die Fähigkeit, einfache Aufgaben auszuführen, verbessern. Es wird angenommen, dass das Medikament durch die Regulierung der Aktivität von Glutamat wirkt, einer Chemikalie, die bei der Verarbeitung, Speicherung und dem Abruf von Informationen eine Rolle spielt.[10] Bei der vaskulären Demenz, die entsteht, weil aufgrund einer unzureichenden Blutversorgung durch die Blutgefäße Teile des Gehirns geschädigt werden, können Behandlungen zur Senkung von Risikofaktoren wie hohem Cholesterinspiegel und erhöhtem Blutdruck dazu beitragen, weitere Schäden zu verhindern.
Medikamente werden auch zur Symptomlinderung eingesetzt. Unter anderem können Antidepressiva und angstlösende Medikamente dazu beitragen, mit Demenzerkrankungen einhergehende Stimmungsschwankungen auszugleichen. Weitere häufige Merkmale der Alzheimer-Krankheit wie Schlaflosigkeit und Veränderungen im Schlaf-Wach-Rhythmus können mit Schlafmitteln behandelt werden. Außerdem können manche Patient*innen mit nichtmedikamentösen Konzepten wie Gedächtnistraining, körperlichen Aktivitäten und psychologischer Beratung unterstützt werden.[2,3]

Morbus Alzheimer ist durch einen Rückgang des Acetylcholin-Spiegels, der eine Schlüsselrolle für Gedächtnis, Denken, Urteilsvermögen und Aufmerksamkeit spielt, charakterisiert. Cholinesterasehemmer verhindern den Abbau von Acetylcholin. Dadurch wird der Acetylcholin-Spiegel im Gehirn erhöht und die kognitiven Funktionen werden vorübergehend verbessert.

Der „heilige Gral der Wissenschaft“ ist natürlich das Finden einer Behandlung, die das Fortschreiten von Morbus Alzheimer, der bei weitem häufigsten Form von Demenz, grundlegend verlangsamt oder sogar stoppt. Mit einer von der FDA[11] erst kürzlich zugelassenen Therapie und weiteren in Entwicklung hoffen Expert*innen, dass vielleicht schon bald wirksame Behandlungsmöglichkeiten auf den Markt kommen. Sie empfehlen dennoch Zurückhaltung, da bis jetzt noch keine Medikamente zur Heilung in Sicht sind. „Mit neuen therapeutischen Ansätzen könnten Mediziner möglicherweise diagnostische Daten wie Familienanamnese und Biomarker verwenden, um Maßnahmen zu optimieren, indem Kombinationstherapien verwendet werden, ähnlich wie beim erfolgreichen Konzept für AIDS“, sagte Dr. Saykin. „Wir wissen noch nicht, ob Kombinationstherapien für die Alzheimer-Krankheit zusammen als therapeutischer Cocktail oder nacheinander je nach Krankheitsstadium verabreicht werden müssen. Beispielsweise eine frühe Anti-Amyloid-Therapie, gefolgt von einem anderen Medikament zur Blockierung von Tau oder Entzündungen. Es muss noch geforscht werden, um den Ansatz zu optimieren. Zudem stellt sich auch die Frage, wie die Strategie am besten auf die betroffene Person zugeschnitten werden kann“, so Saykin.
Ironischerweise wird die Zulassung von krankheitsverändernden Therapien ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringen. Derzeit liegt der Schwerpunkt auf der Unterstützung von Patient*innen und Familien, wenn sich die Alzheimer-Krankheit verschlimmert. „Im Vereinigten Königreich rechnen wir damit, dass die vorhandenen Systeme überlastet sein könnten, wenn eine Therapie verfügbar wird. Wir denken intensiv darüber nach, wie wir die Gesundheitsleistungen auf das benötigte Niveau bringen können“, sagte Dr. Mackay. In Schweden rechnet Dr. Hansson mit ähnlichen Herausforderungen. „Die Zulassung einer wirksamen Therapie wird dazu führen, dass noch mehr Patient*innen zu ihren Hausärzt*innen gehen“, sagte er.


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Expert*innen meinen, dass die betroffenen Personen ab Therapiebeginn überwacht werden müssen, um sowohl die Wirksamkeit als auch mögliche Nebenwirkungen zu beurteilen, was die Komplexität der langfristigen klinischen Versorgung noch erhöht.
Laut Dr. Mackay wird eine wirklich wirksame Behandlung wahrscheinlich auch die vorherrschende Wahrnehmung der Alzheimer-Krankheit verändern. „Demenz ist immer noch ein Tabuthema, man hat das Gefühl, dass man sich dafür schämen müsse und es keinen Ausweg gäbe. Es gibt jedoch bereits erste Bemühungen, im öffentlichen Gesundheitswesen stärker über Gesundheit des Gehirns zu informieren und die Menschen dazu zu ermutigen, sie ernst zu nehmen und alles zu tun, was sie können, um sie zu erhalten.“
Mit den Fortschritten an vielen Fronten könnten die Fachärzt*innen bald mehr Möglichkeiten zur Verfügung haben.


Von Peter Jaret

Peter Jaret ist Autor mehrerer Fachbücher aus dem Bereich Medizin, darunter „In Self-Defense: The Human Immune System“, „Nurse: A World of Care“ und „Impact: On the Frontlines of Public Health“. Jaret schreibt häufig für National Geographic, The New York Times, Reader’s Digest, Health Magazine, More, AARP Bulletin und Dutzende anderer Zeitschriften. Er wurde mit einem Preis der American Medical Association for Journalism und zwei James Beard Awards ausgezeichnet. Er lebt in Petaluma, Kalifornien.