#Futureshaper

Wenn ein „Physik-Wunderkind“ erwachsen wird

Schon als Teenagerin war Silvia Arroyo Camejo Wissenschaftsautorin. Heute trägt sie als Data Scientist dazu bei, MRT-Scanner mithilfe von künstlicher Intelligenz noch smarter zu machen. Wir porträtieren die passionierte Physikerin im ersten Teil unserer Serie #Futureshaper.

7min
Katja Gäbelein
Veröffentlicht am August 2, 2021

Während viele Altersgenoss*innen in der "Bravo" blätterten, wälzte sie Bücher über theoretische Physik. Zarte 17 Jahre alt war Silvia Arroyo Camejo, als sie beschloss, selbst ein Buch zu schreiben: Über die kryptische Welt der Quantenphysik, die sie durch ihre totale Unverständlichkeit in den Bann gezogen hatte.

„Ich hatte so viel zu diesem Thema gelesen, da kam das mit dem eigenen Buch dann einfach so.“ Sie habe ihre Erkenntnisse über die „total verrückte“ Quantentheorie „vorwiegend für sich selbst“ aufschreiben wollen, erzählt die heute 35-Jährige lächelnd.

Bereits als Schülerin erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, unter anderem 2005 von der „Deutschen Physikalischen Gesellschaft e.V.“ für hervorragende Leistungen im Fach Physik. Silvias 2006 veröffentlichtes Buch „Skurrile Quantenwelt“ wurde aus dem Deutschen in vier Sprachen übersetzt. Sie selbst besitzt nur noch ein einziges Exemplar – auf Japanisch: „Den Rest habe ich im Laufe der Zeit auf Nachfrage an Familie und Freunde verschenkt.“ Silvia lacht.

Heute arbeitet die promovierte Experimentalphysikerin als Data Scientist in der Software-Vorentwicklung im Bereich Magnetresonanztomographie (MR) bei Siemens Healthineers.

Dass es Silvia nach viel Physik-Theorie in die medizintechnische Praxis zog, daran hat ihr Vater, ein aus Spanien stammender Gefäßchirurg, sicher seinen Anteil: „Ich möchte mit meinen Fähigkeiten tatsächlich etwas für die Menschen bewirken. Das kann ich hier in der Medizintechnik wesentlich besser als in der physikalischen Grundlagenforschung.“

Ob technische*r Entwickler*in, kreative*r Business-Manager*in oder Produktdesigner*in: In unserer Reihe #Futureshaper stellen wir Mitarbeiter*innen vor, die mit ihren innovativen Ideen dazu beitragen, die Zukunft des Gesundheitswesens zu gestalten.
Silvia kam vor vier Jahren zu Siemens Healthineers. Gemeinsam mit ihrem 15-köpfigen internationalen Team arbeitet sie als Technical Lead an einer Smart-Scanning-Funktion für MRT-Scanner: „Kurz gesagt geht es darum, MRT-Scanner zu digitalisieren und mithilfe von künstlicher Intelligenz in eine neue Ära zu führen“, erklärt Silvia.

Dabei ist die Vorentwicklung – wie der Name schon sagt – eine Vorstufe, bevor es an die tatsächliche Produktentwicklung geht. Genau das Richtige für Tüftlerin Silvia, deren hellgrüne Augen zu leuchten beginnen, wenn sie über ihre Arbeit spricht: „Es ist eine riesige Spielwiese. Wir haben verschiedene Technologie-Komponenten, die wir richtig zusammenbringen müssen.“
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Silvia Arroyo Camejo, Data Scientist Magnetic Resonance Imaging at Siemens Healthineers

Silvias Finger tanzen über die Tastatur. Kryptisch aussehende, mehrfarbige Zeichenkombinationen reihen sich am Computerbildschirm aneinander. Silvia codet in der Programmiersprache Python. Das Programmieren komplexer Algorithmen ist Teil ihrer Aufgaben, ebenso wie die Koordination der Zusammenarbeit ihres Teams auf technischer Ebene.

Vor dem Start des Vorentwicklungsprojektes habe eine genaue Bedarfsanalyse in direktem Austausch mit internationalen Kunden gestanden, erzählt Silvia. Was brauchen die verschiedenen Kliniken, Praxen und Praxisketten? Wo fehlt ihnen etwas? Und was wäre das richtige technische Werkzeug, um zu helfen?

„Unsere Kunden berichten uns immer wieder von einem Mangel an hochqualifiziertem Personal“, erklärt Silvia. Das beträfe vor allem den Bereich der Medizinisch-Technischen Radiologieassistent*innen (MTRA): „Es gibt einen hohen Bedarf an medizinischen Scans. Erfahrene „Techs“ bekommen die Kliniken gar nicht so schnell, wie sie sie eigentlich bräuchten“. Ein*e erfahrene*r „Tech“, also MTRA, ist aber zwingend notwendig, um mit einem so komplexen Gerät wie einem MRT-Scanner angesichts der zahlreichen Einstellungs-Variablen die optimale Bildqualität zu generieren.

Die Smart-Scanning-Funktion, an der Silvia mit ihrem Team forscht, soll MRT-Scans ein Stück weit unabhängiger vom Erfahrungslevel der*des MTRA machen. Und zwar mithilfe von künstlicher Intelligenz – zum Beispiel auf Basis von Deep-Learning- Algorithmen. Man könne sich das ähnlich vorstellen wie beim autonomen Fahren, erklärt Silvia. Auch hier gebe es verschiedene Automatisierungsgrade.

Video with Silvia Arroyo Camejo, Data Scientist Magnetic Resonance Imaging at Siemens Healthineers about what is driving her.

Bereits heute arbeiten einige MRT-Scanner von Siemens Healthineers mit sogenannten „Dot Engines“, die in der Vorbereitung von Scans teilweise intelligente Funktionen ausführen: Beispielsweise können sie die Anatomie von Patient*innen richtig registrieren und darauf basierend automatisch erste Scan-Parameter passend einstellen.

Das Smart-Scanning-Projekt, das Silvia vorantreibt, soll noch einen Schritt weiter gehen und die Bedienung von MRT-Scannern durch mehr Automatisierung signifikant vereinfachen: „Wir möchten sozusagen so nah wie möglich an das autonome Fahren herankommen – in dem Bewusstsein, dass die*der MTRA immer das letzte Wort hat und jederzeit eingreifen kann.“

Neben dem Programmieren stehen umfangreiche Testreihen an MRT-Scannern auf der Team-Agenda. Silvia und zwei ihrer Team-Kollegen, Solution Owner Julian Wohlers und Hauptentwickler Dirk Franger, sitzen im Control Room des Scanners. Sie werfen sich über drei Computermonitore mit MRT-Scans hinweg kryptische Fachbegriffe zu. Ein*e Außenstehende*r versteht praktisch kein Wort. Doch an der Stimmung ist zu spüren, dass sich das Team gut versteht – nicht nur fachlich.

Mit der neuen Smart-Scanning-Funktion, an der das Team arbeitet, könnte es künftig möglich sein, automatische Bildqualitätskontrollen durchzuführen: Die künstliche Intelligenz könnte beispielsweise vorschlagen, ob Scans wiederholt werden müssen beziehungsweise welche speziellen Scan-Schritte als nächstes folgen sollten.
Obwohl das zunächst wie ein Widerspruch klingt, wäre genau diese Standardisierung von Prozessen ein weiterer Schritt hin zur Präzisionsmedizin: Es gäbe kein „One size fits all“, alle Scan-Schritte könnten individuell auf die*den jeweilige*n Patient*in abgestimmt werden, so Silvia: „Der Scanner schaut quasi immer als Assistent*in über die Schulter und sagt der*dem MTRA dann zum Beispiel: Hm, bei der*dem Patient*in würde ich empfehlen, dass wir noch zusätzlich das Tumor-Protokoll durchführen, da sieht irgendwas verdächtig aus.“

Noch präziser erstellte Bilder, die bereits auf dem Scanner eine automatische Bildqualitätskontrolle durchlaufen, würden dafür sorgen, dass Patient*innen seltener mehrfach zu Scans einbestellt werden müssten. Die unter Umständen lebensrettende „Time to Diagnosis“ ließe sich verkürzen. Für die Kliniken könnte das Verfahren ein Stück weit Entlastung in puncto Fachkräftemangel bedeuten. Workflows könnten effizienter gestaltet und Kosten eingespart werden. Das Gesundheitssystem insgesamt würde entlastet.
Bis zur Implementierung als fertige Software sei noch ein weites Stück Weg zu gehen, weiß Silvia. Zur Erinnerung: Wir befinden uns gerade in der Vorentwicklung. Die Vision sei jedoch, dass die Smart-Scanning-Funktion in Zukunft möglichst breit gefächert auf MRT-Scannern zum Einsatz kommen könne.

Apropos Zukunft: Plant die Autorin Silvia weitere Bücher? „Reizen würde es mich schon. Vielleicht finde ich irgendwann später mal wieder die Zeit dafür. Aber ab und zu sollte man ja auch mal weg vom Computer, richtig?“ Und da ist es wieder, dieses leicht kryptische Lächeln.

Von Katja Gäbelein
Katja Gäbelein ist Redakteurin in der Unternehmenskommunikation bei Siemens Healthineers. Das Team ist spezialisiert auf Themen rund um Gesundheit, Medizintechnik, Krankheitsbilder und Digitalisierung.