Onkologie

Lungencheck am Parkplatz?

Eine Idee, die Kosten spart und Leben rettet: Der National Health Service (NHS) in Großbritannien hat im Rahmen seines Long Term Plan beschlossen, Gefährdete proaktiv zur kostenlosen Krebsvorsorge einzuladen..

7min
Andrea Lutz
Veröffentlicht am 25. Mai 2022

Krebsvorsorge, aber bitte unkompliziert. Großbritannien macht es vor: Hochrisikopatienten werden innerhalb weniger Minuten untersucht, erhalten Gewissheit über den Zustand ihrer Lungengesundheit und sparen dabei noch den Weg in die Klinik – die zum Lungen-Check nötige Computertomographie wird in einem umgebauten Wohnmobil durchgeführt – und zwar quasi auf dem Weg zum Brötchenholen am Supermarktparkplatz.

Lungenkrebs gehört zu den prog¬nos¬tisch ungünstigen Tumoren: Nur einer von fünf Betroffenen überlebt durchschnittlich die ersten fünf Jahre nach Diagnosestellung.[1] Wie bei allen Krebs¬arten hängen die Prognosen davon ab, in welchem Stadium die Erkrankung entdeckt wird. Patienten haben bessere Über¬lebens¬aussichten, wenn der Krebs in Stadium I oder II gefunden wird – oder jedenfalls deutlich bevor die ersten Symptome auftreten.
Je früher man Krebs aufspürt, desto besser lässt er sich behandeln und in manchen Fällen sogar heilen. Doch genau das ist oft schwierig: Da Lungen¬krebs im frühen Stadium häufig keine Beschwerden verursacht und die typischen Symptome erst auftreten, wenn die Erkrankung fortgeschritten ist, wird die Erkrankung in vielen Fällen spät – und oft zu spät – entdeckt. Vor allem kleinere, und deshalb harmlosere Tumoren werden meist nur zufällig aufgespürt – etwa, wenn die Lunge aus anderen Gründen geröntgt werden muss.
Tumorbestimmung

Es wurde bereits in mehreren Studien gezeigt: Lungenkrebs-Screening per Low-dose-Computertomographie (LDCT) kann Leben verlängern. Die National Lung Screening Trial (NLST) in den USA hat schon 2011 eine Senkung der krebsspezifischen Sterblichkeit von Hochrisikopatienten belegt. Die später veröffentlichte europäische NELSON-Studie beweist dies ebenfalls. Hier waren ein Jahrzehnt nach Start der Screening-Offensive die Sterbefälle durch Lungenkrebs von Rauchern und ehemaligen Rauchern, die sich einer Untersuchung mit LDCT unterzogen hatten, um 24 Prozent (bei den Männern) beziehungsweise 33 Prozent (bei den Frauen) niedriger als bei der Vergleichsgruppe, die ohne Screening blieb.[2] Auch die deutsche LUSI Studie und die ITALUNG Studie aus der Toskana liefern Hinweise auf eine geringere Sterblichkeit aufgrund von Lungenkrebs für Patienten, die Low-dose-CT-Screenings erhielten.[3]

Einen interessanten Startpunkt für die Relevanz von Screeningprogrammen in Großbritannien hat der UK Lung Cancer Screening Trial (UKLS) gesetzt. Die Studie bezog 3968 Personen in Liverpool und Cambridge ein – alle in der Altersgruppe zwischen 50 und 75 Jahren. Etwa 75 Prozent unter ihnen waren männlich, das Durchschnittsalter betrug 68 Jahre. Bei allen Teilnehmern wurde das Risiko, innerhalb von fünf Jahren Lungenkrebs zu entwickeln, als besonders hoch eingeschätzt. Zwischen Oktober 2011 und Februar 2013 wurde etwa die Hälfte (1987 Teilnehmer) mit einer Computertomografie untersucht. Die restlichen Teilnehmer erhielten die gängige Gesundheitsversorgung, die vom NHS angeboten wird – allerdings durchliefen diese Personen keinen CT-Scan. Jeder einzelne Patient wurde über sieben Jahre hinweg beobachtet und begleitet. In diesem Zeitraum wurden 86 Fälle von Krebs bei denjenigen entdeckt, die das Screening mitmachten, hingegen nur 75 Fälle wurden bei Patienten aufgespürt, die eine standardmäßige ärztliche Versorgung erhielten. Und auch was die Mortalität angeht, war das Ergebnis interessant: 46 der Patienten, die keine CT-Untersuchungen durchliefen, verstarben innerhalb des Zeitraums von sieben Jahren – von den Teilnehmern aus dem Screeningprogramm verstarben nur 30 Personen.[4]

Die Mortalität (Sterblichkeit) ist das Sterblichkeitsmaß im Rahmen einer bestimmten Erkrankung.

Gegründet im Jahr 1948 ist der National Health Service (NHS) bis heute das staatliche, öffentliche Gesundheitssystem. In Großbritannien gibt es, anders als zum Beispiel in Deutschland, keine gesetzlichen Krankenversicherungen. Das britische Gesundheitssystem basiert auf der Idee des Wohlfahrtsstaates, die der britische Parlamentarier William Beveridge im Beveridge Report niedergeschrieben hat. Darum ist auch die öffentliche Gesundheitsversorgung von Steuern finanziert und fast alle medizinischen Leistungen sind für die Briten kostenlos.

Der Report ist die Grundlage des Aufbaus der sozialen Sicherungssysteme im Großbritannien der Nachkriegszeit, insbesondere des NHS.
Jeder dritte Krebspatient in Großbritannien hat Lungenkrebs.[5] Damit erhalten rund 48500 Menschen jedes Jahr diese Diagnose.[6] Zwar ist die Zahl der Raucher im Vereinigten Königreich in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Aber immer noch kostet ihr Zigarettenkonsum den Rauchern mehr Lebensjahre als jeder andere beeinflussbare Risikofaktor. Darum ist es ein grundsätzlicher und langfristiger Plan des NHS, die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen – allen voran Raucher – zu schützen. Das Ziel: bis 2028 sollen jedes Jahr zusätzlich 55000 Menschen fünf Jahre oder mehr nach ihrer Krebsdiagnose überleben.[7]
Ein Pilotprojekt der NHS ist das Manchester Programm das 2019 gelauncht wurde. Das Programm wurde im gesamten Norden von Manchester eingeführt. Warum dort? Weil es sich hier um die Region mit der höchsten Zahl an Lungenkrebstoten bei den unter 75-Jährigen in England handelt.

Professor Richard Booton, Clinical Director of Thoracic Oncology and Director of the Manchester Lung Health Check Programme at Manchester University NHS Foundation Trust

Um dieses Ziel zu erreichen, wurden stark gefährdete Bevölkerungsgruppen – also Raucher und ehemalige Raucher im Alter zwischen 55 und 74 Jahren – in einer mobilen Scan-Einheit untersucht. 2571 Patienten nutzten die Chance auf das Lungen-CT am Supermarktparkplatz, das in einem dort geparkten und zur Screening-Unit umgebauten Wohnmobil erstellt wurde. Ein Erfolg: Im Rahmen des Programms wurden 65 bis dato unbemerkte Krebsfälle aufgespürt.[8] 80 Prozent der Patienten erhielten ihre Diagnosen im prognostisch günstigen Frühstadium eins und zwei. Damit vervierfachte das Projekt die Frühdiagnoseraten für Lungenkrebs in Manchester und hat sich als so erfolgreich erwiesen, dass die NHS es landesweit ausrollen möchte.[9]
Für die Screenings im Raum Manchester wurde ein handelsübliches Wohnmobil mit einem SOMATOM go CT-Scanner ausgestattet. Nach diesem Vorbild sollen nun innerhalb von fünf Jahren 600.000 Menschen in Großbritannien erreicht werden. Nicht alle Initiativen setzen die mobilen Scanner ein – jede Region entscheidet für sich, welche Maßnahme die jeweils sinnvollste ist. Die NHS verspricht sich von der Initiative, dass einige hundert Menschenleben landesweit früh diagnostiziert und gerettet werden können. Zunächst sollen alle Projekte für vier Jahre laufen, anschließend soll evaluiert werden, ob die Initiative verlängert wird.

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Mit der Computertomografie sind besonders exakte und detailreiche Schichtaufnahmen kleinerer Tumoren möglich. Damit kann vor allem die räumliche Ausdehnung eines Tumors beurteilt werden. Aber es gibt auch einen Nachteil: Bei dieser Art der Bildgebung werden Röntgenstrahlen eingesetzt, die vor allem bei regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen den Körper belasten können. Die Entwickler dieser Technologie setzen daher bei der Weiterentwicklung der Systeme stets darauf, die verwendete Röntgenstrahlung immer weiter abzusenken und dennoch eine gleichbleibende Bildqualität zu erzielen.

Strahlenexposition Lungenkrebs Screening

Ein Beispiel hierfür ist die Zinn-Filter-Technologie, die bei allen SOMATOM go Scannern, die im Rahmen des Manchester Programms genutzt werden, zum Einsatz kommt: Röntgenröhren erzeugen bei einer Untersuchung abhängig vom Anodenmaterial ein typisches Energiespektrum. Der Zinn Filter bewirkt, dass niedrigenergetische Photonen gefiltert werden und den zu untersuchenden Patienten nicht erreichen. Somit haben sie keinen Einfluss auf die effektive Gesamtdosis, es entstehen weniger Artefakte und zugleich eine bessere Bildqualität. Ein weiterer Mega-Durchbruch gelang Siemens Healthineers 2021 mit der Entwicklung des ersten marktreifen photonenzählenden CT-Scanners NAEOTOM Alpha. Die Photon-Counting-CT liefert Bilder, die bereits mit bloßem Auge scharf und detailgetreu sind, weil hier ein Detektor für die direkte Umwandlung der Photonenenergie zu elektrischen Signalen sorgt. So entsteht eine höhere räumliche Auflösung und zugleich lässt sich durch die genaue Zuordnung der Photonen die benötigte Strahlung reduzieren und ein rauschärmeres Bild erzeugen.

Den Kampf gegen den Krebs – das zeigen auch die Anstrengungen in den Cancer Alliance Areas in England – gewinnt man nur gemeinsam. Aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen durch die COVID-19-Pandemie sind bei vielen Menschen Termine für Vorsorgeuntersuchungen auf der Agenda weit nach hinten gerutscht. Darum werden Krebserkrankungen von vielen Experten als eine andere „Pandemie“ beschrieben, die weitaus mehr Opfer fordert als COVID-19. Das World Economic Forum adressiert darum bei seinem jährlichen Meeting im Mai das Thema Krebsvorsorge.

Das World Economic Forum ist eine Stiftung und bietet Debatten zu kontroversen Themen zwischen Öffentlichkeit, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik eine Plattform.
Davon abgesehen, dass jedes einzelne gerettete Menschenleben genug Rechtfertigung ist, Initiativen wie diese zu starten, zahlt sich Früherkennung für Gesundheitssysteme auch finanziell aus. Gerade für ein steuerfinanziertes System ist es hochrelevant, dass die Kosten für die Versorgung von Patienten nicht entgleisen. Interessante Zahlen dazu, was Lungenkrebs eigentlich kostet, haben Wissenschaftler vom Helmholtz Zentrum in München erhoben. Sie untersuchten dazu die Daten von über 17000 Lungenkrebspatienten in Deutschland und beobachteten die Trends über drei Jahre hinweg. Das Ergebnis: die höchsten Behandlungskosten fallen im ersten halben Jahr nach der Diagnose an, weil Betroffene in diesem Zeitkorridor häufig stationär behandelt werden. Der durchschnittliche finanzielle Aufwand pro Fall betrug in diesem Zeitraum im Schnitt 20000 Euro für die Behandlung von Lungenkrebs. Allerdings: Während die Strahlentherapie und die Operation mit etwa 26000 Euro und 20000 Euro verbucht wurden, gab es auch Fälle, für die lediglich 4200 Euro aufgewendet wurden, weil hier keine krebsspezifische Therapie empfohlen wurde.[11]
Kosten Lungenkrebs
Die Wissenschaftler zeigten, dass etwa ein Drittel der Patienten operativ versorgt wurde und dass deren Prognose verglichen mit Patienten, die mit Bestrahlung oder Chemotherapie behandelt wurden, deutlich besser war. Darum gaben die Experten zu bedenken, dass die Weiterentwicklung von Früherkennungsmaßnahmen sehr wichtig sei, weil sich die Chance einer Diagnosestellung in einem operablen Krankheitsstadium erhöht und damit auch die Chancen steigen, dass die Erkrankung konservativ oder kurativ behandelt werden kann.

Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.