Neurologie

Die Östrogengrenze in der Erforschung neurogenerativer Erkrankungen

In ihrer jahrzehntelangen Karriere hat die renommierte Wissenschaftlerin Adriana Maggi die Wirkung von Östrogen auf das zentrale Nervensystem erforscht.
5min
Bill Hinchberger
Veröffentlicht am 28. Oktober 2021

In dieser Zeit hat sich das Wissen über das Hormon und seine Rolle bei der Verhinderung von Neurodegeneration wesentlich erweitert. Der Journalist Bill Hinchberger traf Professorin Adriana Maggi in ihrem italienischen Feriendomizil zu einem exklusiven Interview über ihre bahnbrechende Arbeit.

Die Universität Mailand hat Adriana Maggi kürzlich den Titel Professor Emeritus verliehen. Eine Ehre, die eine illustre Forschungskarriere über fast vier Jahrzehnte widerspiegelt. Maggi ist vielleicht am bekanntesten für bahnbrechende Studien über die Rolle des Hormons Östrogen beim möglichen Schutz vor neurodegenerativen Erkrankungen. Sie arbeitet weiterhin mit den Teams zusammen, die sie im Rahmen des Center of Excellence on Neurodegenerative Diseases (CEND, Exzellenzzentrum für neurogenerative Erkrankungen) der Universität aufgebaut hat.
Maggi spielt auch weiterhin eine zentrale Rolle an der Universität Mailand, vor allem bei der Entwicklung des neuen Campus. Und sie bleibt auch stellvertretende Vorsitzende des Joint Programme – Neurodegenerative Disease Research (JPND, Gemeinsames Programm zur Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen) der Europäischen Union, der weltweit größten Initiative in diesem Bereich.
Wir trafen uns mit Maggi in ihrem Ferienhaus in Camogli, einem Fischerdorf am Mittelmeer in der Nähe von Genua. Im Vorgarten, auf einem Hügel mit Blick auf das Meer, setzten wir uns an Maggis behelfsmäßigen Schreibtisch, einen kleinen Picknicktisch. Obwohl sie eigentlich im Halbruhestand ist – und im Urlaub –, hatte sie ihren Computer eingeschaltet, um an einer wissenschaftlichen Publikation zu arbeiten.
Blick von Maggis Ferienhaus in der Nähe von Genua.
Auf die Frage, ob sie bereit wäre, Italien zu verlassen, um dem Ruhestand zu entgehen und ihrer Leidenschaft für die Forschung weiter nachzugehen, antwortete sie: „Wie könnte ich das hier aufgeben?“
Erzählen Sie uns, wie alles begann.
Gleich nach meinem Abschluss als Doktorin der Biowissenschaften an der Universität Mailand interessierten mich Gehirnfunktionen. Ich begann mit der Forschung am zentralen Nervensystem (ZNS). Fünf Jahre verbrachte ich in Houston [Postdoc-Stipendien an der University of Texas Medical School und dem Baylor College of Medicine]. Ich habe mich völlig umorientiert und mehr auf die Grundlagen der Biologie und Zellbiologie konzentriert. Das war eine große Sache, denn Hormone regulieren die Transkription. Sie aktivieren und deaktivieren Gene.

Zurück in Italien, wollte ich sowohl am ZNS forschen als auch den neueren Hintergrund nutzen. Ich begann zu untersuchen, wie Östrogen mit dem ZNS interagiert. Damals glaubte man noch nicht, dass Östrogene im ZNS wirken könnten. Man ging davon aus, dass sie nur einen rudimentären Einfluss auf das ZNS zur Steuerung des Zyklus und in der Peripherie ausüben. Wir haben herausgefunden, dass Östrogen in mehreren Gehirnbereichen wirkt. Dazu gehört der Hippocampus, der für das Gedächtnis und die elterliche Fürsorge wichtig ist.

Adriana Maggi auf der Terrasse ihres Urlaubsdomizils in Genua.


Konzentrieren Sie sich ausschließlich auf Östrogen, oder auch auf andere Hormone?
Anfangs untersuchte ich auch andere Substanzen, wie Testosteron und Progesteron, aber ich stellte fest, dass Östrogen eine breitere Wirkung auf das ZNS hat. Das ZNS wird schon sehr früh in der Entwicklung in männlich und weiblich differenziert. Dies ist auf Östradiol zurückzuführen. Testosteron wird von den männlichen Keimdrüsen sehr früh produziert – beim Menschen am Ende der Schwangerschaft. Es gelangt in das Gehirn, wo es in Östradiol umgewandelt wird. Östradiol macht das Gehirn maskulin. Ich fand das faszinierend und konzentrierte mich weiter auf Östrogen.
Die Vorstellung, dass es wichtige Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, wird heute sehr kontrovers diskutiert.
Absolut, ich weiß. Darum mochte ich diese Forschung.

Welche Fortschritte sind seit Beginn Ihrer Forschung die wichtigsten?
Mit Östrogen im ZNS kommt es zu erheblichen Veränderungen. Wie schon erwähnt, gingen wir von einer sehr beschränkten Funktion von Östrogenen im ZNS aus. Wir fanden heraus, dass sie stark beteiligt sind. Möglicherweise gibt es auch eine nervenschützende Wirkung.

Adriana Maggi beim Interview mit Bill Hinchberger.


Als ich anfing, wussten wir praktisch nichts über Neurodegeneration. Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson usw. wurden sehr gut beschrieben. Wir kannten ihren Ausgangspunkt im Gehirn, aber über die Mechanismen wussten wir nichts. Teilweise auch deswegen, weil uns die Hilfsmittel fehlten. Eine erhebliche Veränderung während meines Lebens ergab sich durch die Entwicklung neuer Arbeitsmittel in der Biologie. Wir haben die Genetik, ein enorm leistungsfähiges Instrument – insbesondere für das ZNS, wo das System so komplex ist. Wir können von einer Person Zellen und Stammzellen entnehmen, eine Kultur anlegen und sie dann untersuchen. Das ist ein großer Fortschritt.
Ein anderer ist die reverse Genetik. Man kann nicht nur die Zellen des Patienten entnehmen, sie züchten, die DNA untersuchen und feststellen, was nicht stimmt, sondern auch gesunde Zellen aus einem Modellorganismus entnehmen, ihre DNA verändern und feststellen, ob diese Veränderung die Erkrankung verursacht. Als ich meinen Abschluss machte, hätten wir uns das nie träumen lassen. Wir haben damit ungeahnte Werkzeuge in die Hand bekommen.
Molekulare Bildgebung ist ein anderes unglaubliches Werkzeug. Wir können die DNA von Zellen verändern und dann eine einzelne Zelle und ihren Stoffwechsel verfolgen. Früher sahen wir Dinge nur bei toten Tieren. Jetzt kann man das Phänomen an einem lebenden Modellorganismus untersuchen. Vor dreißig Jahren wussten wir noch nicht, wie wir das Problem angehen sollten. Jetzt haben wir sogar in vivo die Mittel für eine reduktionistische Methode.
Der reduktionistische Ansatz ist eine experimentelle Methode zur Untersuchung eines komplexen Problems, indem es auf eine Reihe von Beobachtungen reduziert wird. Dabei kommen einfachere Modelle mit weniger Parametern zum Einsatz, um Theorien zu erstellen.
Können Sie uns etwas über eines Ihrer Forschungsprojekte erzählen, das besonders wichtig war?
Im ZNS kommen verschiedene Zelltypen vor: natürlich die Neutronen, und im Wesentlichen zwei andere Zelltypen, nämlich die Astrozyten oder Astroglia, die den Neuronen beim Überleben helfen, und Immunzellen, die Mikroglia.
Adriana Maggi forschte über die Rolle von Östrogen bei neurodegenerativen Erkrankungen.


Wir fanden heraus, dass Östrogene entzündungshemmend wirken. Ich habe mir die Wirkung von Östrogenen auf Mikroglia angesehen. Ich entdeckte, dass Östrogene bei der Modulation der Mikroglia-Reaktion auf Entzündungsreize eine wichtige Rolle spielen. Durch einen inflammatorischen Reiz entzünden sich die Mikroglia. Sie produzieren Produkte und Prozesse, die wichtig sind, um das Virus oder schädliche Zellen abzutöten. Oder sie hüllen tote Proteine ein, die für das ZNS toxisch sind. Entzündete Mikroglia müssen in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren. Wenn sie entzündliche Moleküle produzieren, werden alle Zellen des ZNS abgetötet. Wenn sie wieder in den ursprünglichen Zustand zurückkehren, bilden die Zellen Schutzstoffe, Wachstumsfaktoren, um die während der Entzündungsphase entstandenen Schäden zu reparieren. Wir fanden heraus, dass Östrogene die Zeitspanne der Entzündung verkürzen. Östrogen löst bei der Zelle einen Entzündungsausbruch aus und dann eine Rückkehr zum Normalzustand. Dies ist bei der Neurogeneration von Bedeutung, da die Entzündung im ZNS viel Schaden anrichtet und möglicherweise stark zum Absterben von Nervenzellen beiträgt.
Erzählen Sie mir von Ihrem Engagement beim JPND (Joint Programme Neurodegenerative Disease).
Das italienische Ministerium für Forschung wählte mich, weil ich das CEND leitete. Jedes Land musste zwei Personen auswählen, eine aus dem Ministerium und eine*n Wissenschaftler*in. Ich war die Wissenschaftlerin. Ich war sehr begeistert von dem JPND, weil ich glaube, dass es uns gelungen ist, ein gutes System zur Förderung von Forschungsgruppen einzurichten und sie in Europa zu vernetzen. Die letzten beiden Jahre waren aber wirklich schwierig. Treffen sind kaum möglich. Ohne Zusammenkünfte und Besprechungen ist es nicht so einfach, neue Ideen und Aktivitäten zu entwickeln. Viele Aktivitäten der JPND haben ihren Anfang genommen, weil wir uns getroffen, gemeinsam diskutiert und eine Idee generiert haben.
Online-Konferenzen und Treffen sind nicht dasselbe.
Nein. Auf keinen Fall. Ganz Europa ist im JPND vertreten. Sie können sich vorstellen, dass wir manchmal starke Meinungsunterschiede haben. Bei Zusammenkünften wurden sie aufgelöst. In einem Zoom-Meeting ist das sehr schwierig. Wir müssen wirklich zurückkehren, uns wieder zusammensetzen und erneut zusammenarbeiten.
Maggi blickt auf eine jahrzehntelange Forschungskarriere zurück.


Wie sehen die Aussichten für die Entwicklung von Behandlungsmethoden in den nächsten fünf bis zehn Jahren aus?
Eines der Probleme besteht darin, dass alle Medikamente, die wir entwickelt haben, und das sind ziemlich viele, den Menschen zu spät verabreicht werden. Die Erkrankung beginnt 20 Jahre, bevor man die Symptome bemerkt. Deshalb werden mittlerweile Studien mit gesunden Menschen erstellt. Sie werden im Laufe der Zeit begleitet, um frühe Biomarker zu identifizieren. Findet man den Biomarker oder die Moleküle im Blut, die die ersten Anzeichen der Erkrankung anzeigen, kann man die Medikamente sofort ausprobieren. Bis wir diesen Punkt erreicht haben, wird es sehr schwierig sein, Medikamente zu finden.
Nun sind Sie Professor Emeritus. Bedauern Sie etwas?
Ich hätte mehr in meine Forschung vertrauen sollen. Ich glaube, dass man oft Angst hat, etwas zu sagen, was nicht korrekt ist. Und dann wagt man nicht, es zu publizieren. Wenn ich zurückgehen könnte, wäre ich wagemutiger. Sonst bedaure ich nichts.
Hängt das damit zusammen, dass Sie eine Frau sind?
Das ist eine gute Frage. Ich denke, dass dies sicherlich ein Umstand ist, aber keine genetische Sache. Es geht wohl um die Erziehung und was uns beigebracht wurde. Frauen sind zweifellos nicht so selbstbewusst, zumindest diejenigen in meinem Alter. Wahrscheinlich ist es jetzt ganz anders. Aber ich denke, dass wir zu wenig Selbstvertrauen hatten. Wir hatten nicht genügend Vertrauen in unsere Möglichkeiten und unsere Macht.

Von Bill Hinchberger
Bill Hinchberger lebt als unabhängiger Journalist in Paris. Er ist ehemaliger internationaler Korrespondent für The Financial Times, Business Week und andere Medien. Er veröffentlichte Artikel für The Lancet und Science.