Innovationskultur

Kristalle züchten: eine reine Teamleistung

Die nächste Generation CT-Detektoren von Siemens Healthineers ist mit Cadmiumtellurid-Kristallen ausgestattet.1 Mit Hilfe dieses neuartigen Materials wird zum ersten Mal die Anwendung von photonenzählenden Röntgendetektoren in der klinischen Routine Realität.

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Andrea Lutz
Veröffentlicht am 19. Oktober 2021

Ein Kristall ist ein wichtiges Symbol für Durchblick und Klarheit. Bergkristalle und Edelsteine gelten seit jeher als kostbar und wurden als Symbole für Reichtum und überragende Bedeutung in Kronen und Schmuck zur Schau gestellt. Damals auf natürlichem Wege entstanden, verlangt ihre heute mögliche künstliche Herstellung vor allem Sauberkeit, Geduld und Perfektion.

Die wichtige Rolle von Kristallen für Wissenschaft und Technik wurde erst erkannt, als man ihren besonderen, weil vollkommen regelmäßigen atomaren Aufbau und die darauf beruhenden physikalischen Eigenschaften zu nutzen lernte. Heute hat die moderne Medizin den sprichwörtlichen „Blick in die Kristallkugel“ längst durch leistungsfähige Diagnosetechniken ersetzt, die unter anderem durch den Einsatz von kristallinen Materialien in Röntgendetektoren ermöglicht werden.

Die größte Menge an technisch genutzten Kristallen stellt Silizium, das als Grundlage für Halbleiterbauelemente wie Mikrochips im täglichen Leben allgegenwärtig ist. Daneben sind heute zahllose andere kristalline Substanzen in Gebrauch, die für bestimmte Zwecke gezielt gezüchtet werden.

Silicon is the most commonly used crystal.
Beispiele sind Siliziumkarbid (für Beschichtungen) oder Indiumantimonid (für Wärmebildkameras). Flüssigkristalle finden weite Verbreitung in Digitaluhren und Bildschirmen, den liquid crystal displays oder kurz LCD.
Kristalle sehen nicht nur schön aus, sondern spielen auch eine entscheidende Rolle bei der Erforschung der Materie an sich. Nachdem die frühen Quantenmechaniker um Schrödinger, Heisenberg & Co aufgeklärt hatten, wie einzelne Atome funktionieren, lag der nächste Schritt nahe: Was passiert, wenn man eine große Anzahl von Atomen „zusammenbaut“? Mit Hilfe von Röntgenstrahlung machte man sich daran, herauszufinden, wie feste Körper im Allerkleinsten funktionieren. Das sehr kurzwellige Licht, das mit dem menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden kann, tritt mit den regelmäßig angeordneten Atomen eines Kristalls in eine ganz besondere Wechselwirkung. Je nach Einfallswinkel der Strahlung überlagern sich einzelne Reflexe jedes der zig Trilliarden Atome oder löschen sich gegenseitig aus.

Analysiert man die so auf einem Leuchtschirm erscheinenden Beugungsbilder, kann man aus der Anordnung und den Abständen der Atome untereinander Rückschlüsse auf die besonderen Eigenschaften eines Festkörpers ziehen. Für diese bahnbrechenden Erkenntnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden mehrere Nobelpreise verliehen – unter anderem an Max von Laue, William Henry Bragg und dessen Sohn William Lawrence Bragg. Man erkannte jetzt, dass ein Kristall seine besonderen Eigenschaften der absolut regelmäßigen Anordnung von Atomen oder Molekülen eines Materials verdankt.
„Fest“ im Sinne eines der vier Aggregatzustände von Materie, die wir heute kennen. Alle Stoffe, reine Elemente oder Verbindungen sind je nach Temperatur und Druck fest, flüssig, gasförmig oder liegen als Plasma vor.
Nachdem es gelungen war, diese biochemischen Verbindungen darzustellen, wurden zahllose Stoffe derart untersucht und charakterisiert: Metalle und Legierungen, Silizium und andere Halbleiter, Diamant und Quarz, Kochsalz, Kandiszucker und Methamphetamin, schließlich sogar die Erbsubstanz (DNS).
Diamonds are one of the most valuable natural resources to this day

Ein anschauliches Bild für die regelmäßige Anordnung der Atome im Festkörper sind die Pyramiden von Orangen, die vor einem Obststand auf dem Marktplatz aufgestapelt sind. Die Anordnung der Früchte lässt sich – zumindest in Gedanken – beliebig weit fortsetzen. Vier Früchte bilden in einer Ebene ein Quadrat, eine fünfte sitzt in dessen Mitte. Jede Orange im großen Haufen ist gleichzeitig eine Ecke im benachbarten Quadrat und die Spitze einer kleinen Pyramide. Was klingt wie ein Kinderspiel hat eine große Bedeutung. Denn mit der Anordnung der Bausteine, also der Atome, sind grundlegende Eigenschaften verknüpft: elektrische Leitfähigkeit, Wärmeleitfähigkeit, die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schallwellen.

Diamanten gehören bis heute zu den wertvollsten Bodenschätzen, obwohl sie eigentlich nur aus gewöhnlichem Kohlenstoff bestehen. Die absolut gleichmäßige Anordnung der Atome ist es, die das Material so besonders macht. Sobald sich ein fremdes Element – im Bild vom Orangenstapel zum Beispiel eine Melone – in den Haufen schmuggelt, bricht die Regelmäßigkeit ab. Der Haufen bekommt einen Knick, die benachbarten Früchte liegen nicht mehr schnurgerade in jeder Richtung hintereinander und die absolute Reinheit ist zerstört.

Die nächste Generation CT-Detektoren von Siemens Healthineers ist mit Cadmiumtellurid-Kristallen ausgestattet. Diese Kristalle ermöglichen es, Röntgenstrahlung direkt in elektrische Signale umzuwandeln. Letztere sind die Grundlage für die nachfolgende Berechnung und Auswertung der medizinischen Schnittbilder. Je besser die Eingangssignale, desto besser die am Ende der Verarbeitungskette resultierenden Bilder, anhand derer Radiolog*innen Diagnosen erstellen. Mit Hilfe dieses neuartigen Materials wird zum ersten Mal die Anwendung von photonenzählenden Röntgendetektoren in der klinischen Routine Realität.

Gleichzeitig wird die Auflösung der CT-Bilder erhöht und das Pixelrauschen verringert. In der Folge kann die Strahlendosis, die ein Patient während der Untersuchung erhält, weiter verkleinert werden. Die Funktionsfähigkeit eines photonenzählenden Detektors wurde bereits um die Jahrtausendwende im Labor nachgewiesen, doch um die Technologie auf dem Medizintechnikmarkt zu etablieren, gilt es, die benötigten Kristalle nicht mehr nur grammweise im Labor herzustellen, sondern in großen Mengen, die mittelfristig für tausende CT-Systeme ausreichen.

Damit wird es möglich, jedes Photon, also jedes Quantum Strahlung, das den Sensor erreicht, einzeln zu messen und hinsichtlich seiner Energie zu charakterisieren. Diese detailliertere Informationsmenge ermöglicht eine deutliche Verbesserung der CT-Bilder.
Sauberkeit, Geduld, perfekte Technik – das sind die wichtigsten Voraussetzungen für die Zucht perfekter Kristalle. Eine einzige Verunreinigung in der Schmelze kann den Wachstumsprozess stören, der sich über mehrere Wochen oder Monate hinziehen kann. Während in der Natur ein Kristall zufällig entsteht, müssen die Experten bei Siemens Healthineers den Wachstumsprozess für die industrielle Herstellung genauestens verstehen und entsprechend kontrollieren. Die Verarbeitung der hochreinen Zutaten ist eine Kunst für sich. Jedes Gefäß, in dem die Zutaten aufbewahrt oder verarbeitet werden, muss absolut sauber sein – und „sauber“ bedeutet hier, dass nicht einmal ein einzelnes Schmutz-Atom übersehen werden darf.

Auf dem Weg zur Serienproduktion mussten die Ingenieurinnen und Ingenieure bei Siemens Healthineers zahlreiche Hürden überwinden. Zunächst wurde ab 2011 eine enge Partnerschaft mit Acrorad in Japan eingegangen – eines der wenigen Unternehmen weltweit, das die Kunst der Kristallzucht mit höchster Qualität beherrscht. Am Standort Forchheim wurde zudem unter der Leitung von Dr. Christian Schröter ein eigenes Labor zur Entwicklung der neuartigen Kristalle eingerichtet: das 2020 eröffnete “Crystal Center”. Das dort gezüchtete Cadmiumtellurid weist inzwischen einen Reinheitsgrad von 99,9999 Prozent auf und das darf wahrlich als reine Teamleistung bezeichnet werden.

Christian Schröter is head of the crystal center.

Die anschließende Verarbeitung der fertigen Kristalle zu hochqualitativen Röntgensensoren ist eine nicht minder anspruchsvolle Aufgabe. Die neuen Detektorsysteme einschließlich der hochspeziellen Elektronik zur Signalaufnahme und -verarbeitung wurden ebenfalls in Forchheim entwickelt. Parallel sind seit 2014 drei experimentelle Prototypen-Scanner bei ausgewählten klinischen Partnern von Siemens Healthineers in Deutschland und in den USA stationiert und werden dort in der radiologischen Praxis erprobt.
Mehrere weitere international renommierte Universitätskliniken im In- und Ausland evaluieren derzeit ein erstes System, das bereits für den klinischen Einsatz zugelassen und an 20 Standorten installiert ist. Der leidenschaftliche „Tour de France“-Fan Schröter unterstreicht, dass jede dieser Etappen nur als „einzigartige Teamleistung“ zu bewältigen sein, die nun zunächst mit der Nominierung zum Deutschen Zukunftspreis gewürdigt wurde.
Siemens Healthineers Forscher sind für den „Deutschen Zukunftspreis“ nominiert.
Thomas Flohr, Stefan Ulzheimer und Björn Kreisler sind für den Deutschen Zukunftspreis nominiert, eine der höchsten Auszeichnungen für Technologie und Innovation in Deutschland.
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Bis zum Jahr 2025 wird schließlich die komplette mehrstufige Prozesskette zum Bau der derzeit wohl besten Röntgendetektoren auf dem Medizintechnikmarkt am Standort Forchheim etabliert sein – angefangen von der Herstellung der hochreinen Rohmaterialien, über die Kristallzucht bis zur Bearbeitung des Cadmiumtellurids und der anschließenden Integration in die Datenaufnahmeelektronik.

Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.