Innovationskultur

Wer Photonen zählt braucht Partner, mit denen er rechnen kann

In 20 Jahren Forschung und Entwicklung im Bereich „Photon Counting“ war nicht immer klar, dass die Arbeit der Physiker und Ingenieure von Erfolg gekrönt sein würde und dass jemals ein marktreifer Computertomograph entstehen sollte. Aber woher kam die Zuversicht, dass genau dies gelingen kann?

6min
Andrea Lutz
Veröffentlicht am 1. Oktober 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beschreibt den Deutschen Zukunftspreis als einen „Preis der Zuversicht“. Konkret stehe er dafür „dass wir die Herausforderungen unserer Zeit nicht erdulden müssen, sondern dank den Ergebnissen von Grundlagen- und Spitzenforschung gestalten können.“

Mit dem Projekt „Quantenzählender Computertomograph“1 sind nun Dr. Björn Kreisler, Dr. Stefan Ulzheimer und Prof. Dr. Thomas Flohr stellvertretend für ein Team von Siemens Healthineers für diesen Preis nominiert. Der von ihnen und ihren Kolleg*innen entwickelte Computertomograph (CT) ermöglicht detaillierte Einblicke in den menschlichen Körper und ist ein sprichwörtlicher „Quantensprung“ in der medizinischen Bildgebung. Kern des Systems ist ein neuartiges Detektorprinzip, das auf der Zählung und Auswertung einzelner Photonen beruht. Der aus einem kristallinen Material bestehende Röntgendetektor ermöglicht eine bislang unerreichte Auflösung computertomographischer Aufnahmen und liefert wertvolle Zusatzinformationen. Thomas Flohr, der bei Siemens Healthineers den Bereich CT-Physik leitet, sagt: „Unsere Innovation liefert den Ärztinnen und Ärzten zusätzliche Informationen, die es ihnen ermöglichen können, Krankheiten frühzeitig zu diagnostizieren. Darüber hinaus bietet sie Möglichkeit, auch Therapieentscheidungen abzuleiten und als Patient*in über die eigene Geschichte mitzubestimmen."

Die photonenzählende Computertomographie wird die ärztliche Diagnose in der Kardiologie, Pulmonologie, Onkologie und Notfallmedizin voranbringen.

CT Photon Counting Heart Imaging
Und er beschreibt genau das mit einem Beispiel: Eine der häufigsten Todesursachen in den westlichen Industrienationen ist der Herzinfarkt. Die quanten- bzw. photonenzählende Computertomographie ermöglicht es, Verengungen von Arterien – und damit ein erhöhtes Herzinfarktrisiko – auch bei solchen Patienten zuverlässig zu erkennen, die bislang mit einem Herzkatheter untersucht werden mussten. So könnte man den zumeist älteren Betroffenen diese invasive Prozedur ersparen. Aber auch andere Patientengruppen profitieren von der Erfindung der Forchheimer: In der Notfallmedizin ermöglicht die Innovation einen besonders schnellen und verlässlichen Überblick über Verletzungen. In der Krebsmedizin lassen sich Vorstufen von Tumoren und Metastasen leicht und präzise erkennen. Und all das ist gemeint, wenn Bundespräsident Steinmeier sagt: „…Herausforderungen nicht erdulden, sondern gestalten…“
For the "photon-counting computed tomography system" project, Björn Kreisler, PhD, Stefan Ulzheimer, PhD, and Professor Thomas Flohr, PhD, representing a team at Siemens Healthineers, have now been nominated for the German Future Award.
Mehr Zuversicht ist also das, was den Patienten hier angeboten werden kann. Und Zuversicht war auch in 20 Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit immer wieder gefragt, denn nicht immer war klar, dass die Arbeit der Physiker und Ingenieure von Erfolg gekrönt sein würde und dass daraus ein marktreifer CT hervorgeht. Aber woher kam diese Zuversicht? Wer hatte sie zuerst? Und wie hat ihre Wirkung sich entfaltet? Thomas Flohr erinnert sich an die Anfänge des Projekts im Jahr 2001: „Damals waren die Vorteile von Cadmiumtellurid als Detektormaterial prinzipiell bekannt. Wir wussten, dass es zu einer höheren Auflösung und einem besseren Kontrast im CT-Bild beitragen würde. Uns war klar, dass wir über den separaten Nachweis einzelner Röntgenquanten auch erfassen könnten, welche Energie sie tragen. Damit ließen sich anatomische Strukturen besser identifizieren und wir würden verschiedene Arten von Gewebe sicherer voneinander unterscheiden können als bislang möglich.“ Das Problem der Crew war aber, dass Cadmiumtellurid bis dato nicht die Anforderungen an die medizinische Bildgebung erfüllte und dass es auch nicht in ausreichend großen Mengen verfügbar war.
Eine kristalline Verbindung, die aus Cadmium und Tellur  gebildet wird.
Das Projektteam startete seine Arbeit mit Materialscreenings – und bald wurde in der Firma Acrorad in Japan ein starker Partner für die Aufgabe identifiziert. Gemeinsam wurde eine Technologie entwickelt, um Cadmiumtellurid künstlich herzustellen, und die Unternehmenspartnerschaft besteht noch heute. „Im ersten Jahrzehnt haben wir die Kristallzüchtung immer weiter optimiert, um die Eigenschaften der medizinischen CT besser zu erfüllen“, erinnert sich Stefan Ulzheimer, Programmleiter für die Counting-Technologie. 2008 wurden erste Prototypen von CT-Komponenten gebaut. Ein wichtiger Meilenstein. Jedoch: „Wir haben aber auch schnell gesehen, an wie vielen Themen noch gearbeitet werden musste. Irgendwann waren wir kurz davor, das Projekt einzustellen…“ Und wie kam die Zuversicht zurück ins Team?

Stefan Ulzheimer, PhD, Program Manager for photon-counting CT, Siemens Healthineers

Eine Analyse von außen half den Forschern aus der Schaffenskrise. Die Kolleg*innen der zentralen Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Siemens bewerteten die Technologien auf ihre Marktchancen hin. Das Team durchlief gemeinsam einen systematischen Prüfprozess und es wurden konkrete Punkte aufgezeigt, an denen nachjustiert werden musste. Björn Kreisler, Senior Key Expert für Detektoren, erinnert sich, dass damals Durchhaltevermögen gefragt war.

Björn Kreisler, PhD, Senior Key Expert for detectors, Siemens Healthineers

Von da an ging es schnell vorwärts. 2014 folgten erste klinischen Tests mit Prototypen in den USA und Deutschland. „Das Netzwerk unserer klinischen Partner erwies sich als unsere besondere Stärke,“ sagt Thomas Flohr. Ein weiteres Mal wurde der Stand des Projekts von extern bewertet und die Zuversicht war da.

Professor Thomas Flohr, PhD, Head of CT Concepts, Siemens Healthineers

Technisch war die Route nun klar, jedoch „die ersten Ansätze waren exorbitant teuer“, so Stefan Ulzheimer, „und weil wir ein kommerzielles Produkt entwickeln, spielt eben nicht nur die technische Machbarkeit eine Rolle. Egal wie großartig eine Erfindung ist, egal welchen Nutzen sie bringt – die Budgets am Markt sind limitiert.“ Nach und nach gelang es dem Team, Cadmiumtellurid in hoher Qualität zu züchten und das Kristall auch kosteneffizient für die Detektoren zu präparieren. Zugleich entwickelten die Ingenieure eine innovative Technik der Bildauswertung, mit der sich die beim Photonen zählen anfallenden riesigen Datenmengen schnell verarbeiten ließen. Die Feedbacks aus der Installation der zweiten Generation von Prototypen 2020 halfen, das System für die klinische Praxis zu optimieren.

CT Photon counting Team

Über zwei Jahrzehnte hinweg haben mehrere Teams interdisziplinär zusammengearbeitet und blieben zuversichtlich, dass daraus etwas Besonderes entstehen würde. Das Ergebnis beschreibt Thomas Flohr in einem Satz: „Wir haben ein ursprünglich als aussichtslos angesehenes Unterfangen umgesetzt in einen serientauglichen medizinischen CT, der zu marktfähigen Preisen verkauft werden kann.“

Egal ob die Nominierten im November mit dem Zukunftspreis ausgezeichnet werden oder nicht – ihre Reise geht weiter und das Team hat sich bereits neue Ziele gesetzt. „Wir wünschen uns, dass sich die quanten- oder photonenzählende CT verbreitet. Sie soll gute Entscheidungsvorlagen für Ärzt*innen liefern und Bilder mit fortschreitender Digitalisierung selbst analysieren können“, sagt Thomas Flohr. Klar im Fokus steht dabei, den klinischen Nutzen der Technologie quantifizierbar zu machen. Stefan Ulzheimer schildert eine Vision der Physiker: „In fünf bis zehn Jahren gibt es zum Ausschluss von signifikanter Stenose keine diagnostische Katheteruntersuchung mehr für die Koronararterien.“
Product image CT Photon Couting

Seit 2021 sind Computertomographen mit photonenzählenden Detektoren im klinischen Routineeinsatz. Damit ist Siemens Healthineers weltweit Vorreiter – und will den Vorsprung mit der Einführung einer kompletten neuen Produktlinie sogar vergrößern. Dafür wird derzeit eine Anlage zur Züchtung von Cadmiumtellurid-Kristallen gebaut und die Fertigungseinrichtungen für CT-Systeme in Forchheim werden erweitert.


Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.