Digital Twin

Die Geburtsstunde des digitalen Zwillings

Individuelle Patientenversorgung durch Computersimulation? Digitale Zwillinge könnten die Medizin völlig umkrempeln.
6min
Andrea Lutz, Doreen Pfeiffer
Veröffentlicht am 31. August 2021

Erste Erfolge gibt es bereits. Aber das Konzept stellt besondere Anforderungen an Datenerhebung- und austausch. Zwei Mammutaufgaben.

Kann ein Algorithmus errechnen, welchen körperlichen Schaden der Genuss einer Tüte Chips anrichtet und welchen Nutzen ein grüner Smoothie stattdessen bringt? Und das als personalisierte Prognose für jeden Einzelnen?

Forscher des Weizmann Institute of Science in Rehovot/ Israel haben genau das hinterfragt. Sie statteten 800 Personen eine Woche lang mit Messgeräten aus, die pausenlos deren Blutzuckerspiegel erfassten.

Die Forscher werteten die individuelle Reaktion des menschlichen Stoffwechsels auf 46.998 Mahlzeiten aus. Außerdem sammelten sie Angaben zum Ernährungsverhalten, der körperlichen Aktivität, zur allgemeinen Verfassung sowie zum Mikrobiom der Testpersonen.

A health Digital Twin
Eine künstliche Intelligenz (KI) fand Muster in den gewaltigen Datenmengen und entwickelte einen Algorithmus, der abschätzen konnte, wie die Probanden auf eine bestimmte Art der Ernährung reagieren würden. Das Verblüffende: Menschen, welche die Vorgaben der KI befolgten profitierten im selben Maß wie die Vergleichsgruppe mit menschlichen Ernährungsberatern.1

Reinhard Laubenbacher von der University of Florida schlägt vor, eine ganz ähnliche Technik im Kampf gegen Virus-Infektionen wie Covid-19 einzusetzen.2 Er ist sicher: Wenn man so viele individuelle Patientendaten wie nur möglich sammeln und am Computer verschiedene Modelle über den Krankheitsverlauf durchrechnen würde, ließen sich Zukunftsszenarien in Echtzeit aufzeigen.

Systembiologen wie Laubenbacher versuchen, Beziehungen zwischen Zellen und Organen grundlegend zu verstehen. Ordnet man Daten systematisch, können Zusammenhänge sichtbar werden. Darum liefern Daten wichtige Einsichten, um innovative Medizintechnik oder Medikamente zu entwickeln.

Die Systembiologie ist ein Zweig der Biowissenschaften, der versucht, biologische Organismen ganzheitlich zu verstehen. Ziel ist, ein integriertes Bild aller regulatorischen Prozesse über alle Ebenen vom Genom bis hin zum Verhalten und zur Biomechanik des Gesamtorganismus zu bekommen.

Und auch, um sogenannte Digitale Zwillinge3 so zu programmieren, dass sie sinnvolle Prognosen liefern, sind Daten grundlegend. Viele Daten. Diverse Daten. Und: das Datenpaket muss ständig weiter angefüllt werden, damit der digitale Zwilling für immer neue Simulationen genutzt werden kann.

Als virtuelle Abbilder eines realen Produkts oder Prozesses enthalten digitale Zwillinge stets grundlegende Informationen zu den Eigenschaften ihres realen Doppelgängers. Die Fertigungsindustrie macht sich das Konzept zunutze: Weil sich jeder Entwicklungsschritt heute an einem virtuellen Abbild vollziehen lässt, kann ein neues oder verändertes Produkt bereits sehr frühzeitig auf Herz und Nieren geprüft werden, ohne materielle Ressourcen zu verschwenden.

Ein Digitaler Zwilling ist die „digitale Repräsentation eines […] Produktes […] innerhalb eines einzelnen oder über verschiedene Lebenszyklen hinweg anhand von Modellen, Informationen und Daten“.

Die Technologie des digitalen Zwillings kann industrielle Prozesse also an vielen Stellen bereits verbessern. Die daraus gewonnen Erkenntnisse auf medizinische Einsatzzwecke zu übertragen, ist jedoch ungleich schwieriger.

Um ein allgemeines Abbild eines Patienten zu erschaffen, müssten zunächst neuronale Netzwerke anhand Millionen Datensätzen trainiert werden. Erst im nächsten Schritt könnten diese Daten zu einem holistischen, menschlichen Modell zusammengesetzt werden, um für einen spezifischen Patienten Rückschlüsse zu ziehen, indem es dessen individuelle Ausgangssituation mit ähnlichen Datensätzen vergleicht.

Therapieoptionen, Medikamentengabe – diese Entscheidungen erfordern sehr viel Flexibilität und funktionieren heute oftmals über Trial-and-Error, da Alter, Geschlecht oder genetische Dispositionen neben den komplexen biochemischen Abläufen im Körper, über Erfolg und Misserfolg einer Behandlung mitbestimmen können.

Künstlich geschaffene neuronale Netze sind in ihrer Funktion dem menschlichen Gehirn nachempfunden und werden zum maschinellen Lernen eingesetzt. Mit der Unterstützung von Computern und deren Rechenleistung können komplizierte Probleme bearbeitet werden.
Daneben ist auch die Qualität der bereitgestellten Daten entscheidend. Ein Beispiel: werden beispielsweise CT-Scans von Herz-Patienten mit Arrhythmien, Arterienverkalkungen oder hohen Herzfrequenzen erstellt, ist es gerade für weniger erfahrene Mitarbeiter in der Radiologie nicht einfach, exzellente Bildqualität zu sichern. Erst die intelligente Unterstützung von Applikationen macht für Fachkräfte jeder Erfahrungsstufe das personalisierte, individualisierte Scannen möglich – eine Grundvoraussetzung, um jederzeit Daten in höchster Qualität zu erstellen.
Perspektivisch sollen die Doppelgänger im Gesundheitswesen einen spezifischen Patienten individuell abbilden. Ähnlich der Studie zur Blutzuckerkontrolle ließen durch einen digitalen Zwilling für jeden Einzelnen Auswirkungen prognostizieren, die durch eine Änderung des Lebensstils eintreten würden.

Und das nicht mittels Pauschalaussagen über erwartbare Reaktionen in bestimmten Altersgruppen oder Lebenssituationen, sondern in Form einer individualisierten Prognose - beispielsweise hinsichtlich der Nebenwirkungen von Medikamenten. Oder es können anhand des spezifischen Patientenstatus‘ Therapieentscheidungen getroffen werden, weil sich die Reaktion der Behandelten vorab und ohne Risiko vorhersagen ließe. Jedoch solch ein vollständiges, lebensbegleitendes, physiologisches Modell eines Patienten, das mit jedem klinischen Bild, jedem gemessenen Blutwert und jeder abgeschlossenen Untersuchung aktualisiert wird, bleibt vorerst eine Vision.

Digitale Zwillinge einzelner Teilbereiche sind jedoch schon zum Greifen nah. Sie alle unterscheiden sich von herkömmlichen 3D-Modellen durch ihre hohe Dynamik und die Vielzahl der Szenarien, die sich mit ihnen durchspielen lassen.

Organ Modelle simulieren die Struktur und Funktionsweise eines Organs oder eines Organsystems. Disease Models zeigen sämtliche pathologische Prozesse auf, die im Rahmen einer auftretenden Erkrankung beobachtet werden. Und auch im Krankenhausmanagement könnten digitale Zwillinge künftig ihren Platz finden.

Sogenannte Predictive Models können Ereignisse, Verhaltensweisen oder Ergebnisse vorausberechnen. So könnten im Bereich des Krankenhausmanagement Prozesse verschlankt werden, weil komplexe Entscheidungen für die Zukunft auf Basis einer klaren Datenlage getroffen werden können.
Übrigens: am virtuellen Modell der Leber wird bereits geforscht. Am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden wollen die Forscher durch eine exakte Simulation des Gallenflusses lernen, die Nebenwirkungen von Medikamenten besser vorherzusagen.
Zunächst wurde der Gallentransport in der Mausleber gemessen. Mit Hilfe von Rechenmodellen wurde ein Modell erstellt. Die Forscher arbeiten nun an einer Strategie, um dieses Modell auf die menschliche Leber zu übertragen.4
Für die Entwicklung digitaler Doppelgänger bietet Siemens Healthineers Unterstützung mit Lösungen in der Bildgebung oder Labordiagnostik. Ausgangspunkt dafür sind intelligente elektronische Patientenakten. Künstliche Intelligenz und Erkenntnisse aus der Kohortenanalyse sollen Diagnose- und Behandlungsentscheidungen für Ärzteteams erleichtern.
Untersuchung von Teilen der Bevölkerung, in deren Rahmen Entwicklungen und Veränderungen von Gruppen, die dieselben Merkmale (z. B. gleiches Geburtsdatum) tragen, verglichen werden.

Eine Familie von KI-gestützten, cloudbasierten Workflow-Lösungen etwa kann Ärzte bei ständig wiederkehrenden Arbeiten entlasten und die diagnostische Präzision bei der Beurteilung medizinischer Bilder erhöhen:

Die Algorithmen des AI Rad-Companion ermöglichen eine automatische Nachbearbeitung von Bilddatensätzen. Und die Applikationen des Pathway Companion unterstützen ein personalisiertes und standardisiertes Patientenmanagement und geben wertvolle Einblicke zur Prozessoptimierung, während Radiologen sich auf die wichtigen Aufgaben im Spannungsfeld der steigenden Anforderungen konzentrieren können.

Wird unsere Medizin, die heute noch Krankheiten behandelt also bald abgelöst von einer Medizin, die unsere Gesundheit hütet, weil die KI uns individuell und vorausschauend berät? Werden Krankheiten in Zukunft weniger schwer verlaufen, weil wir sie früher erkennen und präziser behandeln können? Möglich – doch dazu müssen nicht nur technologische Hürden genommen werden.

Heute unterhält zwar jedes Healthcare-Unternehmen seine eigene Daten-Infrastruktur, aber in den jeweiligen Daten-Silos verbleiben diese Schätze meist auch. Gründe für die Nichtherausgabe gibt es reichlich: die Sorge um den Datenschutz, die Angst vor dem Datenhunger der Konkurrenz, die Tücken der Technik. Ein Dilemma – denn dieser Informationsschatz würde es ermöglichen, therapeutische Entscheidungen fundierter zu treffen, Nebenwirkungen kleiner zu halten, Kliniken patientenorientierter zu planen und Medizinprodukte passgenauer zu gestalten.

Grundvoraussetzung für die Geburt jedes individuellen virtuellen Doppelgängers ist jedenfalls das Vorhandensein vollständiger, sorgfältig erhobener Daten zum richtigen Zeitpunkt. Und die müssen entlang des Lebenswegs und sogar über den Tod hinaus gepflegt und ergänzt werden – zum Nutzen derer, die nachkommen. Genau hier liegt der entscheidende Punkt: es sind die Daten, die wir hüten wie unseren Augapfel, mit denen die Erstellung eines digitalen Zwillings erst möglich wird.


Von Andrea Lutz, Doreen Pfeiffer

Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland. Doreen Pfeiffer studierte Journalismus mit Schwerpunkt auf Medizin/ Biowissenschaften und arbeitet als Redakteurin bei Siemens Healthineers.