Zoom in die Mikroarchitektur des Gehirns

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Matthias Manych
Veröffentlicht am 18. März 2020

Wissenschaftler der Universität Göttingen entwickelten eine spezielle Phasenkontrast-Tomographie für bisher unerreichte Einblicke in die Feinstruktur von Nervenzellen. Im Gespräch vor Ort erklären die beteiligten Forscher, wie diese virtuelle Histologie die Tür für ein besseres Verständnis neurodegenerativer Krankheiten und möglicherweise für neue diagnostische Anwendungen öffnet.

Die Gewebeprobe, die mit Photonen durchleuchtet wird, ist nur etwa einen mal drei Millimeter groß. Sie stammt aus der Kleinhirnrinde, einer mit Nervenzellen besonders dicht gepackten Hirnregion. Als am Ende des Versuchs alle Röntgensignale, die der Detektor hinter der Probe registriert hat, in Bilddaten umgerechnet sind, ergibt sich ein beeindruckend detailreiches Bild: Verzweigte Dendriten der Purkinje-Zellen ragen wie Äste aus dem Zelldickicht der Körnerschicht heraus. In der dreidimensionalen Rekonstruktion sind circa 1,8 Millionen Kleinhirnzellen dargestellt.

Dieser hochaufgelöste Zoom in die neuronale Mikroarchitektur wird mit Hilfe einer speziellen Variante der Phasenkontrast-Tomographie möglich. Entwickelt wurde sie von Prof. Tim Salditt, Professor am Institut für Röntgenphysik der Universität Göttingen, und seinem Team. Statt wie beim herkömmlichen Röntgen die Abschwächung der Röntgenstrahlen zu nutzen, geht es beim Phasenkontrast um deren Brechung in der Gewebeprobe, wie Salditt erklärt: „Wenn die Röntgenstrahlen durch das Objekt dringen, spiegelt sich dies entsprechend in ihrer Laufzeit wieder. Mit dem Phasenkontrast kann man die Laufzeitunterschiede der Strahlen im freien Raum zwischen Objekt und Detektor messen und daraus Informationen über biologische Strukturen berechnen und darstellen.“

Der Phasenkontrast-Tomograph im Labor der Göttingen Röntgenphysik besteht aus einer Flüssigmetall-Röntgenquelle, der Probenhalterung, dem Detektor und einem Tubus mit optischen Linsen. In der Röntgenquelle treffen Elektronen auf einen feinen Strahl aus flüssigem Metall. Die dabei entstehenden Photonen treffen auf die Probe und werden anschließend vom Detektor erfasst. Die Optik dient als Mikroskop. Mit hochauflösenden Detektoren sind Messzeiten von 30 Minuten und weniger möglich. Für die Methode am DESY muss aus dem Spektrum der Synchrotronstrahlung eine bestimmte Energie herausgefiltert, monochromatisiert werden. Die so definierte Strahlung wird dann mit einem Spiegelsystem (Kirkpatrick-Baez-Optik) fokussiert und schließlich mit einem Wellenleiter auf nur 15 Nanometer Durchmesser reduziert. Diese Strahlung trifft dann auf die Probe und am Ende auf den Detektor.

Die Entwicklung der Phasenkontrast-Tomographie zur virtuellen Histologie ist das Ergebnis eines Gemeinschaftsprojekts der Salditt-Gruppe und des Teams um Prof. Christine Stadelmann-Nessler, Direktorin des Instituts für Neuropathologie der Göttinger Universitätsmedizin. Wie die Medizinerin berichtet, reichten ihr die zweidimensionalen Informationen aus klassischer Licht- aber auch Fluoreszenz- und Elektronenmikroskopie nicht mehr aus. Für ihren Forschungsschwerpunkt Multiple Sklerose (MS) möchte Stadelmann-Nessler exakt die Zellen bestimmen können, die bei der MS-Entwicklung zugrunde gehen. Über den Kontakt zu Prof. Salditt entstand der Gedanke, die 2D-Ebene zu verlassen und sich mit 3D stattdessen in die räumliche Dimension zu begeben.
Für die gemeinsamen Arbeiten mit der Phasenkontrast-Tomographie bot sich das Kleinhirn an. Es ist bereits histologisch gut definiert und bei MS besonders betroffen. Bisher war es aber praktisch unmöglich, z.B. die Zellen der Körnerschicht zu quantifizieren. „Wir müssen noch die Fragen beantworten, wie viele Zellen sich genau wo befinden, wie sie mit den Nachbarzellen verbunden sind, welche Zelltypen tatsächlich an dem speziellen Ort vorliegen und wie sie miteinander verschaltet sind“, beschreibt Stadelmann-Nessler den Bedarf. Und die virtuelle Histologie mit Phasenkontrast-Tomographie soll das Werkzeug sein.

Die Begeisterung ist Dr. Franziska van der Meer, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Neuropathologie, deutlich anzumerken. „Wenn man jetzt in das 3D-Bild hineinzoomt, sieht man, was die Zelle darunter macht, wie die Feinstrukturen der Zellen miteinander verbunden sind“, erklärt die Neurowissenschaftlerin. Die Ergebnisse des Phasenkontrast-Tomographen im Göttinger Labor konnten am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg bestätigt werden.
Die Göttinger Wissenschaftler hatten Gelegenheit, hier ein vergleichbares Instrument zu installieren, was den Biophysikern als Referenzstandard diente.Denn die Synchrotronstrahlung ermöglicht deutlich höher aufgelöste Bilddaten. Das Resultat: Die im Göttinger Labor erzeugten 3D-Rekonstruktionen sind sehr gut. Dabei erwies sich besonders der eigens entwickelte Algorithmus als beeindruckend leistungsfähig, wenn es darum geht, Zellen segmentiert darstellen zu können. Nach den Erfahrungen Salditts entsteht für die Göttinger Biophysiker und Neuropathologen mit ihrer engen Kooperation und wechselseitigen Inspiration im nationalen und internationalen Vergleich momentan ein technologischer Vorteil.

In acht bis zehn Jahren könnte die Anwendung von Phasenkontrast-Tomographie in der klinischen Routine angekommen sein, schätzt Prof. Tim Salditt.

In acht bis zehn Jahren könnte die virtuelle Histologie klinische Realität werden.

Nach dem Proof of Concept geht es den Wissenschaftlern jetzt darum, die Methode zu verfeinern: bessere Auflösung und schnellere Verarbeitung der gigantischen Datenmengen mit maschinellem Lernen. Und an den nächsten Zielen wird bereits gearbeitet. Neben der MS sollen weitere neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer besser verstanden werden. So laufen in Göttingen bereits Untersuchungen mit virtueller Histologie zur Beziehung von Alzheimer-Plaques und den umliegenden Gefäßen.
Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Translation als diagnostische Methode in die klinische Routine. Dafür müssten zunächst größere Studien die Korrelation zwischen virtueller Histologie und klassischem pathologischen Befund beweisen. Dann müssten Technik und Algorithmik in einen einfachen und robusten Workflow integriert werden können. In acht bis zehn Jahren könnte es soweit sein, schätzt Salditt und ergänzt: „Als Fernziel stellen wir uns vor, dass in jeder Pathologie ein Phasenkontrast-Tomograph steht“.


Von Matthias Manych
Matthias Manych, Diplom-Biologe, ist freiberuflicher Wissenschaftsjournalist, Redakteur und Autor mit dem Schwerpunkt Medizin. Seine Arbeiten erscheinen hauptsächlich in Fachjournalen, aber auch in Zeitungen und online.