#Futureshaper

Krebs: Wie KI-Architekten die Strahlentherapie der Zukunft bauen

Ein Quantensprung in der Krebsbehandlung? Künstliche Intelligenz (KI) könnte den Planungsprozess der Strahlentherapie optimieren und die Wartezeiten für Patient*innen von Wochen auf Stunden reduzieren. Lesen Sie, wie Konzept-Entwickler Fernando Vega mit einem großen Team dieses ehrgeizige Ziel erreichen will – in Teil sieben unserer Serie #Futureshaper.
 8 min
Katja Gäbelein
Veröffentlicht am 10. Juli 2023

Warten auf einen Facharzttermin, auf ein bestelltes Medikament oder darauf, im Wartezimmer endlich aufgerufen zu werden: Wartezeiten im medizinischen Bereich sind – wie überall sonst – ein Ärgernis. Doch leider könnten sie hier lebensgefährlich werden. Zum Beispiel, wenn Krebspatient*innen auf den Beginn ihrer dringend benötigten Strahlentherapie warten müssen. 

Die Strahlentherapie1 bei Krebs ist ein komplexer Prozess. Er umfasst unterschiedliche Arbeitsschritte und Technologien. Vor allem die Bestrahlungsplanung dauert lang: Aktuell etwa zwei Wochen von der Verschreibung bis zum tatsächlichen Start der Behandlung. „In einigen Fällen kann der Zeitfaktor beim Thema Krebs über Leben und Tod entscheiden“, sagt Fernando Vega ernst.

Eine Behandlungsmethode bei Krebs, bei der ionisierende Strahlung eingesetzt wird, um Krebszellen zu vernichten. Sie kann die Zellteilung hemmen oder die Krebszellen direkt abtöten. So können bösartige Tumoren verkleinert oder zerstört werden. 

Eine supernahe Detailaufnahme zeigt einen Ausschnitt aus Fernando Vegas Gesicht: Einen Teil seiner Brille, sein Auge, und einen Teil seiner Nase vor einem hellblauen Hintergrund.

Seine Kolleg*innen und er haben genau dieser Wartezeit den Kampf angesagt. Während KI-trainierte Large-Language-Modelle im Begriff sind, die sprachliche Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu revolutionieren, arbeiten Vega und Team in engem Austausch mit klinischen Partner*innen an einer KI-Revolution der ganz anderen, stilleren Art.


Leicht untersichtig von der Seite aufgenommene Porträtaufnahme von Fernando Vega. Im Hintergrund ist in leichter Unschärfe eine orangefarbene Deckenbeleuchtung zu sehen.

Vega sitzt konzentriert vor seinem Computer. Auf den Monitoren CT-, PET-CT und MRT-Scans eines Krebspatienten. Heller und auf den Bildern deutlich abgesetzt zu sehen der Tumor, der in der linken Gehirnhälfte wuchert.

Eine Technik der medizinischen Bildgebung, bei der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und Computertomographie (CT) kombiniert werden, um detaillierte Bilder von Stoffwechselaktivitäten und anatomischen Strukturen im Körper zu erzeugen. 

Fernando Vega, der aus Kolumbien stammt, ist Informatiker und Spezialist für medizinische Bildverarbeitung und Software-Applikationen. Bei Siemens Healthineers leitet er den Bereich „Software & Concept Definition Cancer Therapy Imaging“ des Geschäftsbereiches Varian: „Die Frage, die wir uns aktuell stellen, ist: Wie können wir den gesamten Workflow der Strahlentherapie beschleunigen und optimieren – mit Hilfe von KI?“

Auf diese Frage will Vega gemeinsam mit einem großen Team aus Kolleg*innen verschiedener Geschäftsbereiche eine Antwort finden. Siemens Healthineers bietet heute schon ein umfassendes Portfolio an Geräten und Systemen für die Strahlentherapie. Doch KI- Vernetzung soll bald noch viel mehr möglich machen:

Nach dem Zusammenschluss im April 2021 fokussiert sich der Unternehmensbereich Varian im Rahmen der "Comprehensive Cancer Care"-Strategie unter anderem auf die Entwicklung von KI. Das Ziel: Eine Welt ohne Angst vor Krebs zu schaffen.

Aber was genau kann die KI am Workflow verbessern? Um das zu verstehen, sehen wir uns an, wie der Prozess heute abläuft: Von der Verschreibung der Strahlentherapie bis zur tatsächlichen Bestrahlung brauche es – grob zusammengefasst – vier Schritte, erklärt Fernando Vega.

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Im ersten Schritt begutachtet der*die Radioonkolog*in2 die Vorbefunde und bespricht die Chancen, Risiken und Art der Bestrahlung mit dem*der Krebspatient*in.

Radioonkologen sind Ärzt*innen, die sich auf die Behandlung von Krebs durch Strahlentherapie spezialisiert haben. Sie leiten und planen die Strahlentherapie und arbeitet dabei eng mit anderen medizinischen Spezialist*innen zusammen.

Der*die Radioonkolog*in gibt diese Informationen in ein Onkologie-Informationssystem ein. Anschließend vereinbart die Sprechstundenhilfe mit dem*der Patient*in einen Termin für die Bildgebung, denn hochpräzise medizinische Bilder sind die Basis für die weitere Behandlung. Im Idealfall erhält der*die Patient*in nach einigen Tagen Wartezeit den Termin. Damit wäre der erste Schritt beendet.


Fernando Vega erklärt, wie das Szenario in dem durch KI verbesserten Workflow ablaufen würde: Die ersten Teilschritte – also das Patient*innengespräch und die Verschreibung der Bestrahlung bis hin zur Eingabe ins Informationssystem – blieben gleich. Doch die Terminvergabe würde über die KI im Onkologie-Informationssystem geregelt, so Vega: „Die KI wüsste auf Basis der eingegebenen Informationen bereits genau, welche Art Scan der*die Patient*in braucht und könnte ggf. auch einsehen, welcher passende Scanner als nächstes frei ist. So könnten Wartezeiten verringert werden.“

Onkologie-Informationssysteme wie ARIA OIS dokumentieren den Behandlungszyklus eine*r*s Patient*in. Die Mediziner*innen können damit ihre Arbeitsabläufe planen.

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Auch im zweiten Schritt – der Bildgebung als Basis für die Bestrahlungsplanung – würden sich durch den KI-Einsatz Vorteile gegenüber dem heutigen Ablauf ergeben.
Im dritten Schritt wird ein dreidimensionaler Bestrahlungsplan entworfen – der komplexeste und zeitintensivste Vorgang innerhalb des Prozesses. Darauf muss ein*e Krebspatient*in heute meist mehrere Tage warten. In akribischer Detailarbeit erstellt ein medizinisches Expert*innenteam in einer Art „Aufgaben-Ping-Pong“ die digitale Simulation.

Als Teil des Planungsprozesses erfolgt die Konturierung, ein aufwändiger und langwieriger Arbeitsschritt. Auf den medizinischen Bildern (den CT, PET-CT und/oder MRT-Scans) wird der zu behandelnde Bereich, also zum Beispiel die Tumore, von dem umliegenden gesunden Gewebe abgegrenzt. Die Risikoorgane, die bei der Bestrahlung geschont werden sollen – die „Organs-at-Risk“ oder kurz OARs – werden herausgearbeitet.

Im klinischen Alltag übernähmen die Konturierung der OARs je nach Land und Klinik Assistenzärzte oder -ärztinnen der Strahlentherapie, MTRA, Medizinphysiker3, oder medizinische Dosimetrist*innen, erklärt Vega. Der manuelle Prozess sei jedoch fehleranfällig. Zu Verbesserungen könne heute bereits eine Autokonturierung führen, also eine automatisierte Konturierung der OARs.

Sie sind Expert*innen der medizinischen Physik und arbeiten eng mit Radiolog*innen und Radioonkolog*innen zusammen, um die medizinische Bildgebung und Strahlentherapie zu optimieren.
Erst nachdem die OARs konturiert wurden, kann es mit der Bestrahlungsplanung weitergehen: „Hier ergeben sich also ebenfalls Wartezeiten für den*die Patient*in“, erklärt Fernando Vega. Der*die Radioonkolog*in übernimmt jetzt wieder, überprüft die Organ-Konturierung und definiert anschließend die Behandlungsbereiche, wie beispielsweise die Tumore. Anschließend gibt er*sie die digitale Anatomie der*des Patient*in frei.
In der Zwischenzeit ist der*die Medizinphysiker*in – und damit letztlich auch der*die Patient*in – in Warteposition. Erst wenn die OARs und Zielbereiche fertig definiert und freigegeben sind, kann der*die Medizinphysiker*in mit der genauen Dosisberechnung der Bestrahlungsteildosen, der sogenannten Einzelfraktionen, beginnen.
Diese Dosisberechnung muss dann wieder der*die Radioonkolog*in „absegnen“. „Und diese Ärztinnen und Ärzte sind im klinischen Alltag sehr beschäftigt und oft schwer zu erreichen“, ergänzt Fernando Vega. Doch erst nach Beendigung dieses Schritts könne der*die Patient*in endlich zur Bestrahlung einbestellt werden.

Senior AI research scientist Chloé Audigier is conducting research aimed at creating a digital twin of the human liver. Such models can help physicians simulate multiple treatment options.

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Und was könnten die Wissenschaftler*innen hier durch den geplanten KI-gestützten Ablauf verbessern? „Wir könnten die Wartezeiten für alle Beteiligten auf ein Minimum reduzieren und die Therapie noch individueller auf den*die Patient*in abstimmen“, sagt Vega:

Die KI könne die Koordination zwischen den Planungsschritten verbessern. Durch die zuvor optimal auf die Erfordernisse des*der jeweiligen Patient*in und die jeweilige Therapie eingestellten Scanner könnten Fehler bei der Konturierung reduziert werden. Zudem könnten aus der personalisierten Bildgebung noch genauere Informationen für die Planung gewonnen werden, zum Beispiel zur Tumorbewegung, zur Tumorzellenverbreitung oder zur Wahrscheinlichkeit des Therapieerfolgs.

Senior AI research scientist Chloé Audigier is conducting research aimed at creating a digital twin of the human liver. Such models can help physicians simulate multiple treatment options.

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Basierend auf den Resultaten einer präzisen Autokonturierung könnte eine Planungssoftware für Strahlentherapie automatisch die korrekte Dosisverteilung berechnen. Über das alle Arbeitsschritte begleitende, KI-gesteuerte Onkologie-Informationssystem würde der*die Radioonkolog*in automatisch den Hinweis bekommen, dass die Pläne bereit sind für die abschließende Bewertung.

Das Team, das die Bestrahlung plant, würde über das Informationssystem in Echtzeit erfahren, welche Bestrahlungsplanung bereits abgeschlossen ist. Es könnte dem*der jeweiligen Patient*in unter Berücksichtigung der verfügbaren Systeme und des verfügbaren Personals den frühestmöglichen Termin zur Bestrahlung geben. Insgesamt würden bei der Erstellung des Bestrahlungsplans nicht nur das „Aufgaben-Ping-Pong“ und damit Wartezeiten reduziert, sondern auch potenzielle Fehlerquellen.

Die RapidPlan Software nutzt auf Basis von maschinellem Lernen bestehende Behandlungspläne, um automatisch eine optimierte Planung zu erstellen.
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Ganzkörperaufnahme von Fernando Vega aus der Vogelperspektive. Er steht mit verschränkten Armen da und schaut lächelnd nach oben. Im Hintergrund ist ein auffälliger Fliesenboden zu sehen. Auf das Bild ist als Overlay ein Zitat von Vega geschrieben: „Für mich ist es ein wahr gewordener Traum, dass ich an diesen Lösungen mitarbeiten darf.“

Dann erklärt Vega, wie Schritt vier des Gesamtprozesses derzeit abläuft: die eigentliche Bestrahlung. Mit einem Linearbeschleuniger4 (LINAC) wird der Tumor mit Röntgenstrahlen behandelt. Das Ziel: die Krebszellen zu zerstören bzw. an der erneuten Teilung zu hindern. Die Behandlungstermine mit den Teildosen erstrecken sich meist über mehrere Wochen.

Der LINAC nutzt Elektrizität, um u.a. hochenergetische Röntgenstrahlen zu erzeugen. Die Strahlen haben eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Eine der häufigsten ist die Behandlung von Krebs durch die Zerstörung von Krebszellen.

Wie könnte die KI den Ablauf bei der Bestrahlung selbst verbessern? „Sie könnte beispielsweise bei Lungenkrebs die Tumore automatisch im Bild erkennen und die Bestrahlung in Echtzeit an die Atembewegungen anpassen. So könnten wir ein noch präziseres Ergebnis bekommen“, erklärt Vega.

Direct i4D sorgt dafür, dass bei CT-Scans Bewegungs-Artefakte vermieden werden – für eine präzisere Bestrahlungsplanung. Hier lesen Sie mehr darüber, wie #Futureshaper Christian Hofmann mit seinem Team die algorithmische Lösung entwickelt hat.

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Zusammenfassend lässt sich sagen: Heute gibt es bei der Bestrahlungsplanung deutliche Zeitverluste dadurch, dass das medizinische Team verschiedene Systeme und Workflows miteinander koordinieren muss. Der Prozess dauert im Schnitt mehrere Wochen.

Wenn all diese Systeme dank KI künftig „wie ein einziges“ denken könnten, gäbe es praktisch keine unnötigen Wartezeiten mehr, sagt Vega: „Unsere Vision ist, dass es dann von der Verschreibung bis zum Beginn der tatsächlichen Bestrahlung nur noch wenige Stunden dauert.“

LINACs use electricity to generate high-energy X-rays or eletron beams. This radiation can be used for a broad range of purposes. One of the most widely used applications is in the treatment of cancer by killing cancer cells.

Zudem könne die KI die Therapie insgesamt noch individueller auf den*die Patient*in anpassen, was zu besseren Behandlungsergebnissen führen – und so, in Kombination mit dem Zeitgewinn, Leben verlängern könnte.
Auch für den klinischen Alltag ergäben sich Vorteile: Die KI kann wiederkehrende Aufgaben beschleunigen. Sie kann das Klinikpersonal entlasten und durch mehr Effizienz zu Kosteneinsparungen beitragen. 

Eines ist klar: Im Alleingang lässt sich ein Vorhaben wie dieses, das so viele Arbeitsschritte, unterschiedliche Geräte und Systeme umfasst, nicht umsetzen. Dazu braucht es viele kluge Köpfe, weiß Fernando Vega, der auch gleich los muss zum anstehenden Video-Call mit seinen internationalen Kolleg*innen.

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„Wir haben noch einen weiten Weg zu gehen, bis wir unsere Vision vollständig in unsere Geräte und Systeme implementieren können.“ Darüber ist sich Vega bewusst. Zumal das Vorentwicklungsprojekt skalierbar wäre: Zukünftig könnten weitere Bereiche wie die Bildgebung für die Krebs-Früherkennung und die Labordiagnostik in den KI-optimierten Workflow integriert werden. Mit dem Ziel eine stabile, vernetzte Lösung für Krebszentren zu schaffen, die eine umfassende und nahtlose Versorgung ermöglicht: Entlang des gesamten Krebs-Behandlungspfades – von der Früherkennung bis zur Nachsorge.

Vollblut-Innovator Fernando Vega, der sogar beim Joggen nach Feierabend noch gerne KI-Hörbücher hört, ist in jedem Fall von Künstlicher Intelligenz und ihrem Zukunftspotenzial fasziniert. Und bleibt doch stets umsichtig:

© Fotografie: Markus Ulbrich
© Video: Lisa Fiedler (Kamera, Schnitt); Markus Ulbrich (Kamera); Cagdas Cubuk (Kamera, Ton); Katja Gäbelein (Konzept, Regie) 
© Motion Graphics: Viola Wolfermann


Von Katja Gäbelein

Katja Gäbelein ist Redakteurin in der Unternehmenskommunikation bei Siemens Healthineers und spezialisiert auf Technologie- und Innovationsthemen. Sie arbeitet als Autorin für Text und Film. 

Redaktionsassistenz: Guadalupe Sanchez